Cilia Spitz und Stella | 05.08.2021
“Generation beziehungsunfähig” - das hört man häufig in Bezug auf Generation Y bis Generation Z (30-40 Jahre und jünger) und bezeichnet meist ein Liebesleben geprägt von unverbindlichem Sex, wechselnden Partner:innen, sich nicht festlegen wollen und auch nach längeren Jahren Beziehung nicht zusammenzuziehen oder zu heiraten. Michael Nast begründet dies in seinem Artikel “Generation Beziehungsunfähig” vor allem mit dem Wunsch nach Selbstoptimierung, also dem konstanten Warten auf “etwas besseres”. Aber was, wenn jemand wirklich ernsthafte Bindungsangst hat und deshalb keine Beziehungen eingeht?
Zuerst stellt sich die Frage, ob Beziehungsunfähigkeit in dem Sinne etwas Negatives sein muss. Ist es wirklich falsch, sich selbst verwirklichen zu wollen, bevor man bereit ist, sein Leben dauerhaft mit einer Person zu teilen? Die Welt schreibt, dass die Chancen für eine lang anhaltende Ehe sogar steigen, je älter beide Seiten bei der Eheschließung sind und je länger sie vorher zusammen waren. Also warum hetzen? Alt ist hier allerdings relativ: Das Durchschnittsalter zum Heiraten bei Männern liegt bei 33,6, bei Frauen bei 30,9 Jahren.
Der Spruch, dass früher eben “repariert” anstatt “ausgetauscht” wurde, beweist auch nicht zwingend, dass früher alles besser war, sondern dass andere Verhältnisse vorlagen. Gerade Frauen hatten vor 50 Jahren noch nicht die Möglichkeiten, die sie heute haben, weswegen sie einfach weniger abhängig von einem Partner bzw. einer Partnerin und daher nicht an eine (evtl. ungesunde) Beziehung gebunden sind.
Und auch sich nicht festzulegen, ist nicht zwingend negativ. Dass man mehr Möglichkeiten hat, wie man sein Beziehungsleben gestalten möchte, von wechselnden One-Night-Stands über offene Beziehung über Polygamie bis hin zur traditionellen Monogamie, ist doch eigentlich eher ein Zeichen von wachsender Freiheit anstatt von Beziehungsunfähigkeit, die den jüngeren Generationen angehängt wird.
Beziehungsunfähigkeit ist außerdem nicht das Gleiche wie Bindungsangst. Während Beziehungsunfähigkeit ein konstruierter Begriff ist und suggeriert, dass man zu etwas nicht in der Lage ist, wenn man einfach nur von der Norm abweicht, kann Bindungsangst reale psychologische Hintergründe haben. Betroffen können Menschen ganz unterschiedlicher Altersgruppen sein.
Ursache kann z.B. eine Angststörung, eine schizoide oder eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung sein. Oft äußert sich die Bindungsangst durch starke Vermeidung oder sogar Verweigerung von Nähe und Intimität, Ghosting, akribischer Suche nach Fehlern (“dem Haken”) oder “zu beschäftigt” für eine Beziehung zu sein. Es gibt aber noch viele weitere Anzeichen für Bindungsangst.
Der Ursprung dieser Angst kann ebenso vielfältig sein wie die Symptome, angefangen bei Überbehütung oder zu wenig Nähe im Kindesalter bis hin zu Scheidung der Eltern, eigenen schmerzhaften Erfahrungen mit Beziehungen oder sogar schweren traumatischen Erlebnissen wie sexuellem Missbrauch. Das zeigt, dass es bei Bindungsangst meist nicht einfach um die Suche nach dem perfekten Partner oder der perfekten Partnerin und mangelndes Zufriedengeben geht, sondern psychische Probleme dahinterstecken. Die Selbstoptimierung als Auslöser der “Beziehungsunfähigkeit” mag es geben, für die Leute, die aber unter tatsächlicher Bindungsangst leiden, macht es das zu einfach. Es klingt, als ob das ganz einfach gelöst werden kann, wenn es tatsächlich eine Therapie bräuchte und spielt dadurch das Problem herunter.
Aus eigener Erfahrung kann ich beitragen, dass die gesellschaftliche Erwartungshaltung nicht gerade dazu beiträgt, dass man sich weniger wie ein Freak fühlt. Das Durchschnittsalter für den ersten Sex liegt in Deutschland beispielsweise bei 16-17 Jahren. Und obwohl das Durchschnittsalter seit Jahren wieder steigt, wird dennoch oft suggeriert, in einem bestimmten Alter gewisse Erfahrungen “abgehakt” haben zu müssen. Auf nahezu jeder Familienfeier wird gefragt, ob ich einen Freund habe bzw. ob ich ihn mal mitbringen kann, es wird also einfach vorausgesetzt, dass ich einen habe. Bei Trinkspielen packen alle ihre wilden Sexgeschichten aus, während man selbst weitgehend still in der Ecke sitzt, weil man bestimmte “wilde” Erfahrungen vielleicht nicht gemacht hat.
Nachdem die Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Sex- und Beziehungsleben zunehmend breit gefächerter werden, sollte es auch verständlich sein, dass manche Menschen Angst vor Beziehungen haben und dass Bindungsangst ein reales Phänomen, nicht ein Effekt der “beziehungsunfähigen” jüngeren Generationen ist. Und die jüngeren Generationen sind u.E. auch nicht beziehungsunfähig, sondern leben einfach mehr Beziehungsentwürfe als früher. Eine Abweichung von der Norm ist nicht gleich Beziehungsunfähigkeit. Diese vielfältigeren Entwürfe und vor allem auch die reale Bindungsangst sollten einfach akzeptierter werden und nicht mehr als Abnormalität gesehen werden. Dann wird es auch für Betroffene einfacher, mit der eigenen Angst umzugehen und sie ggf. zu überwinden.
Quellen:
https://www.onmeda.de/teenager/das_erste_mal.html
https://www.welt.de/icon/article137196832/Liebe-in-Zahlen-und-Fakten-der-Leidenschaft.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungsangst#Theoretische_Inspiration_durch_die_Tiefenpsychologie
https://www.aok.de/pk/magazin/familie/beziehung/bindungsangst/