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Karla | 22.01.24
Es sollte die größte Sozialreform in Deutschland seit fast 20 Jahren werden. Mit dem 1. Januar 2023 trat das neue Bürgergeld-Gesetz in Kraft, das das stark umstrittene Hartz IV-System endgültig ablösen sollte. Das Versprechen der jungen Bundesregierung, mit dem Bürgergeld die Würde der Leistungsempfänger*innen zu achten und ihnen künftig mehr Vertrauen und Unterstützung entgegenzubringen, stellte sich jedoch als ebenso falsch heraus wie Christian Lindners Hairline. Ein knappes Jahr später ist von den Bestrebungen der Ampelkoalition, mehr auf Fördern als auf Fordern zu setzen, kaum etwas übrig geblieben. Der Vorschlag von Arbeitsminister Hubertus Heil, „Arbeitsverweigerern” zukünftig bis zu hundert Prozent der Leistungen zu kürzen, ist der letzte Nagel im Sarg der ohnehin schon hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Reform.
Ende Dezember machte Hubertus Heil vielen Menschen in Deutschland ein verspätetes Weihnachtsgeschenk der besonderen Sorte. Heils Gesetzesentwurf, den er zunächst in der BILD ankündigte, sieht es vor, sogenannten „Totalverweigerern” – also Menschen, die vom Jobcenter vorgeschlagene „zumutbare” Jobs ablehnen, obwohl sie theoretisch arbeiten könnten – für bis zu zwei Monate sämtliche Leistungen zu streichen. Nur Unterkunft und Heizung will der Staat
großzügigerweise weiter übernehmen, um Obdachlosigkeit vorzubeugen. Obwohl sich Grüne, Linke, Jusos und diverse Sozialverbände alarmiert über den Vorschlag zeigten, gab das Kabinett bereits
grünes Licht für die geplanten Totalsanktionen
– den Plänen der SPD, den Sozialstaat dem Haushalt zuliebe weiter zu demolieren, steht also eigentlich nichts mehr im Wege.
Dabei ist Heils Vorschlag nicht nur ein Ausdruck von nach Wähler*innenstimmen heischender Symbolpolitik, sondern auch zutiefst zynisch und menschenfeindlich.
Leben in der „sozialen Hängematte?”
Aufkommende Kritik an Heils Sanktionsplänen wird gerne mit dem Argument abgetan, dass derartige Sanktionen ja nur für die Menschen bestimmt seien, die einfach
wirklich keine Lust haben, zu arbeiten. Mit einem Bild dieser Menschen im Kopf sind wir dank
Scripted Reality-Formaten und armenfeindlicher BILD-Überschriften à la „Deutschlands frechster Arbeitsloser” doch alle aufgewachsen: Sie liegen umgeben von leeren Bierdosen auf dem Sofa, und bei allem was sie tun dem Staat auf der Tasche.
Mithilfe derartiger Klischees haben neoliberale Kräfte dafür gesorgt, dass wir Sozialleistungsempfänger*innen instinktiv in zwei simple Kategorien einteilen: Diejenigen, die Hilfe verdienen, und diejenigen, die das nicht tun. Doch eine solche dichotomische Aufteilung kann einer so diversen Gruppe an Menschen, die allesamt individuelle Lebensläufe und Beweggründe haben, nicht gerecht werden.
Von den ca. 5 Millionen Menschen, die in Deutschland auf Bürgergeld angewiesen sind, ist ein knappes Drittel – vor allem Kinder – nicht erwerbsfähig. Übrig bleiben ca. 3,5 Millionen Erwachsene. Rund zwei Drittel dieser Menschen arbeiten, bekommen jedoch nicht genug Lohn, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren – sogenannte Aufstocker*innen – oder gehen unbezahlter Care-Arbeit nach, kümmern sich also zum Beispiel um kranke Angehörige oder um Kinder.
Doch wie viele Menschen lehnen nun tatsächlich einen Job ab? Laut Statistiken der Bundesagentur für Arbeit wurden im Jahr 2021 insgesamt 52.174 Fälle von Leistungsminderung festgestellt, die auf die Weigerung zur Aufnahme einer Arbeit oder Ausbildung zurückzuführen waren. Diese Menschen wurden also zum Beispiel sanktioniert, weil sie auf Vorschläge des Jobcenters nicht eingegangen waren. Selbst wenn jeder dieser Fälle eine einzelne Person darstellen würde – was unwahrscheinlich ist, weil mehrere Leistungsminderungen eine Person betreffen können – so wären das gerade einmal 1,3 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsempfänger*innen. Popelige 1,3 Prozent!
Fest steht also, dass die allerwenigsten Menschen in Deutschland Arbeit ablehnen. Das könnte man sich allerdings auch ganz simpel aus der Tatsache ableiten, dass sich fast niemand ein Leben unter dem Existenzminimum ernsthaft aussuchen würde. Ich sage ganz bewusst
unter dem Existenzminimum, denn obwohl sich die Höhe des Bürgergeld-Satzes an einem dubios errechneten Existenzminimum orientiert, reicht es doch nicht wirklich zum Leben. Zu diesem Schluss kommt der
Paritätische Wohlfahrtsverband,
nach dessen Einschätzung Hartz IV-Leistungen (die sich abgesehen von einem kleinen Inflationsausgleich nicht von Bürgergeld-Leistungen unterscheiden) weder für eine empfohlene Ernährung noch für gesellschaftliche Teilhabe ausreichen. Mehr noch: Mit ihrem Einkommen liegen nahezu hundert Prozent der Leistungsempfänger*innen
deutlich unter der Armutsrisikogrenze.
Wer nicht spurt...
Umso zynischer ist es, wenn ein Hubertus Heil bei
Hart, aber fair
davor warnt, man solle wegen der Erhöhung des Bürgergeldes bloß nicht darauf kommen, seinen Job zu kündigen, das Bürgergeld sei schließlich kein bedingungsloses Grundeinkommen. Dafür, dass diese Behauptung komplett aus der Luft gegriffen ist, gibt es hinreichende Belege.
Ideologisch tritt Heil nach unten und verstärkt einmal mehr das gern genutzte Bild der „sozialen Hängematte”, das sich in der Realität schlicht und ergreifend nicht widerspiegelt.
Dass es sich beim Bürgergeld nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen handelt, liegt ja allein schon daran, dass es an Bedingungen geknüpft ist. Und diese Bedingungen sind nicht ohne. So kann schon ein ungeöffneter Brief, ein verpasster Termin beim Amt dazu führen, dass es im nächsten Monat kaum für eine warme Mahlzeit reicht.
Das Sanktionsregime, mit dem Leistungsempfänger*innen schnellstmöglich zurück auf den Arbeitsmarkt getrieben werden sollen, ist eine der umstrittensten Neuerungen der Agenda 2010.
Ganz im Sinne des
Förderns und Forderns werden Menschen, die sich wenig kooperativ zeigen, die Zahlungen gekürzt. Klingt erstmal ganz logisch, oder?
Nur, dass bis heute leider keine der erwünschten Wirkungen festgestellt werden konnte. Anstatt wie erhofft Anreize zu schaffen, sorgten die Sanktionen einer
Studie
zufolge dafür, dass bei den Sanktionierten eine lähmende Wirkung eintrat. Befragte gaben an, sich stärker aus dem sozialen Leben zurückgezogen, auf wichtige Arztbesuche verzichtet und auf Lebensmittelgutscheine zurückgegriffen zu haben. Betroffene nahmen die Sanktionen als demütigend und bloßstellend wahr, mussten sich Geld leihen oder gingen sogar illegalen Tätigkeiten nach. Laut einer
IAB-Studie
wirkten sich Sanktionen außerdem negativ auf die Beschäftigungs-qualität aus. Ehemals Sanktionierte verdienen nicht nur durchschnittlich weniger als Nicht-Sanktionierte, sondern landen auch eher in instabilen Jobs, die sie dann langfristig nicht halten können. So liegt die Beschäftigungswahrscheinlichkeit für Sanktionierte zwar kurzfristig höher, langfristig jedoch um 3,5 Prozent niedriger.
Kein Wunder, denn um Sanktionen zu vermeiden, sehen sich Betroffene der Willkür des Jobcenters und seiner Mitarbeiter*innen ausgesetzt, die häufig nicht die Zeit haben, sich mit den individuellen Lebensgeschichten und Wünschen des Gegenübers auseinanderzusetzen. So werden viele Menschen dazu gezwungen, die erstbeste, häufig schlecht bezahlte Arbeitsstelle anzunehmen, die vom Jobcenter als „zumutbar” eingestuft wird.
Ob das bei Tönnies am Fließband oder sonstwo ist: Als zumutbar gilt erstmal jede Arbeit, egal, ob sie der vorherigen Beschäftigung entspricht oder nicht. Das Ergebnis ist ein Niedriglohnsektor in Deutschland, der nicht nur
zu den größten in ganz Europa zählt, sondern ganz aktiv durch politische Entscheidungen subventioniert wird. Der Unternehmer freut sich!
Die Gründe dafür, eine Arbeit abzulehnen, können vielfältig sein. Ob nicht erkannte psychische Probleme, schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit oder meinetwegen auch Faulheit: Ich nehme mir nicht das Recht heraus, über diese Menschen zu urteilen. Wie oben erläutert, stellen sie für den Staat ohnehin eine kaum nennenswerte finanzielle Belastung dar – ganz im Gegensatz etwa zu Steuerflüchtigen oder Millionenerb*innen, aber das will ja niemand hören. Stattdessen beschäftigt sich die Bundesregierung lieber damit, den Ärmsten noch das letzte Hemd zu nehmen. Mir drängt sich die Frage auf: Warum tut sie das eigentlich?
Lächerliche 170 Millionen Euro erhofft sich Heil, mit den Leistungskürzungen einzusparen (Zum Vergleich: Das deckt nicht einmal die Kosten für die drei neuen VIP-Helikopter, die die Bundesregierung in diesem Jahr anschaffen will, um Politiker*innen herumzufliegen). Doch selbst diese Zahl ist Expert*innen zufolge unseriös hoch gegriffen. Zu den Sparplänen der Bundesregierung kann der Gesetzesentwurf also nichts beitragen. Der Anspruch des Förderns und Forderns hat sich ebenfalls spätestens erledigt, seitdem der sagenhafte 75 Euro hohe Bürgergeldbonus, der für Weiterbildungen gedacht war, für den diesjährigen Haushalt gestrichen wurde.
So wichtig kann es der Bundesregierung also nicht sein, Menschen einen Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen. Vielmehr wird hier wohl nach der Zustimmung jener gefischt, die ohnehin schon immer der Meinung waren, dass man erst einmal leisten muss, um ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft zu werden. Da wird dann der „hart arbeitende Familienvater” oder „die Krankenschwester im Schichtdienst” angeführt, denen man ja wohl kaum erklären könne, warum jemand, der keine 40 Stunden die Woche auf der Maloche verbringt, es trotzdem verdient zu essen. Eine ziemlich geniale Taktik, die darauf abzielt, genau die Menschen gegeneinander aufzubringen, die doch eigentlich an einem Strang ziehen sollten. Denn auch die Krankenschwester im Schichtdienst ist darauf angewiesen, im Notfall staatliche Leistungen beziehen zu können, wenn sie einmal ihren Job verlieren sollte. In Gehaltsverhandlungen ist es für sie von Vorteil, dass ihre physische Existenz nicht von diesem Job abhängig ist – werden Leistungen jedoch eingeschränkt, verliert sie ihre Verhandlungsgrundlage.
Das liegt ganz einfach daran, dass Unternehmer*innen davon profitieren, wenn Arbeitslosigkeit prekärer wird, denn:
Je mehr Menschen existenziell auf Arbeit angewiesen sind, desto eher sind sie dazu bereit, diese zu schlechten Konditionen und niedrigen Löhnen anzunehmen. Es ist deshalb umso perfider, Menschen, die staatliche Hilfe benötigen, für die Misere der arbeitenden Bevölkerung verantwortlich zu machen. Arbeiter*innenrechte einzufordern darf nicht damit einhergehen, nach unten zu treten. Immerhin sind die allermeisten Menschen in Deutschland sehr viel näher daran, selbst bald Briefe vom Jobcenter zu erhalten, als im Privatjet nach Dubai kiloweise Kaviar zu löffeln.
Im Zweifel für die Grundrechte
2019 stufte das
Bundesverfassungsgericht
Teile der verhängten Sanktionen gegen Leistungsempfänger*innen als verfassungswidrig ein.
Argumentiert wurde mit der grundgesetzlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums:
„Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.”
Wer es nicht glauben möchte, kann es hier also noch einmal schwarz auf weiß lesen:
Ob jemand in Würde leben kann, darf nicht von seiner*ihrer Leistung abhängen. Das Recht, nicht zu hungern, das Recht auf freie Berufswahl, das Recht auf kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe: Es steht jeder*jedem zu. Ein Sozialstaat, der es nicht schafft, diese Rechte für all seine Bewohner*innen – selbst die vermeintlich faulen – zu gewährleisten, ist einer, der seinen Namen nicht verdient hat. Denn er ist auf löchrigem Fundament gebaut.
Ob das BVerfG auch im Falle von Heils Totalsanktionen wieder einschreiten wird, ist unklar. Fest steht jedoch, dass es selbst dann für die Betroffenen schon längst zu spät sein wird. Im Zweifel haben sie dann bereits Schulden aufgenommen, sind tiefer hinein gelangt in den Strudel des Elends oder zurückgekehrt in gewaltvolle Partnerschaften und Familien. Und gegebenenfalls haben sie dann auch das Vertrauen in den Staat verloren, in dessen Gefüge sie doch angeblich wieder eingegliedert werden sollten.
Heils Gesetzesentwurf wird nichts beitragen, außer Tafeln und andere soziale Einrichtungen weiter zu belasten. Besonders in Zeiten eines massiven Rechtsrucks ist es eine bescheuerte Idee, das Narrativ rechter und konservativer Kräfte zu übernehmen und weiter auf denjenigen herumzutrampeln, die am wenigsten haben. Viel sinnvoller wäre es doch, Kitas und Pflegeeinrichtungen zugänglicher zu machen, um denjenigen das Arbeiten zu ermöglichen, die für andere sorgen. Oder endlich Superreiche fair zu besteuern, denen man ja schließlich auch vorwerfen müsste, herumzuliegen und andere für sich arbeiten zu lassen. So wie Juso-Vorsitzender Philipp Türmer es formulierte, ist es jedoch schlicht und ergreifend nicht vertretbar, Menschen als Sanktion hungern zu lassen. Wenn auf nichts anderes, so sollten wir uns zumindest darauf einigen können.
Wenn ihr selbst von Sanktionen betroffen seid, möchten wir euch
Sanktionsfrei.de
empfehlen. Der Verein setzt sich für Menschen ein, die durch Sanktionen in eine Notlage gekommen sind.