Cyberliz | 18.02.2021
“Das wird man doch noch sagen dürfen”, heißt es gerne und oft in diversen Talkshows, beim Stammtisch der Konservativen, oder auf einer Corona Leugner-Demo, wenn Menschen auf diskriminierende Sprache hingewiesen werden. Diese Menschen eint der ultraliberale Freiheitsgedanke: “Wir wollen, müssen und dürfen alles sagen! Das ist doch unser Grundrecht!” Als Ergänzung zu Ella Bätschs Rage-Text zur WDR-Talkshow “Die letzte Instanz” soll hier diskutiert werden, was Meinungsfreiheit, politische Korrektheit und Cancel-Culture eigentlich bedeuten.
Meinungsfreiheit vs. politische Korrektheit: Wo hört der Spaß auf?
In der Debatte in Deutschland haben Rechtspopulist*innen seit der Gründung der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD) den Begriff der freien Meinungsäußerung als Rechtfertigung für den Bruch gesellschaftlicher Tabus und die Verschiebung des "Sagbaren" nach rechts übernommen. Mit Nazi-Rhetorik und ausgrenzenden Begriffen verbreitet die AfD mit ihren Anhängern Denkmuster, die diskriminierende gesellschaftliche Strukturen verstärken und Minderheiten weiter ausschließen. Im Internet und in sozialen Netzwerken benutzen diese Gruppen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit als Rechtfertigung für Hetze. Denn unter Meinungsfreiheit wird nichts anderes als die eigene Meinungshoheit verstanden und deshalb wird schon die bloße Existenz von Widersprüchen als Einschränkung gesehen. Dabei enden diese Hassreden, Lügen, Beleidigungen oder Verschwörungserzählungen, die zu Recht medial oder öffentlich kritisiert werden, mit dem Totschlagargument: "Nieder mit der politischen Korrektheit! Das ist Zensur!" oder jetzt seit Neuestem „Mundschutz = Maulkorb“.
Die Gesellschaft wird immer vielschichtiger, fragmentierter und vielfältiger. Diese pluralistische Entwicklung und kulturelle Durchmischung ist vor allem in den sozialen Medien sichtbar. Plötzlich finden sich Menschen aus der Nazi-Kneipe und Linke in einer Diskussion unter einem Facebookpost wieder. Dieser Aufeinanderprall führt dazu, dass bisher marginalisierte Gruppen (an den Rand der Gesellschaft gedränge Bevölkerungsgruppen, die dadurch nur wenig am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben teilnehmen) nun Verhaltensweisen, von denen sie sich bedroht fühlen, nicht mehr akzeptieren. Wer in seinem ganzen Leben noch nie wegen rassistischer Äußerungen einen Widerspruch geerntet hat, kann sich natürlich zunächst einmal eingeschränkt fühlen, wenn die gleichen Worte in den sozialen Medien Empörung auslösen. Dies ist Teil eines Verhandlungsprozesses, den vor allem Konservative und Rechte als "exzessive politische Korrektheit" bezeichnen, wo immer es ihnen nicht passt. Grundrechte, wie das der Meinungsfreiheit, schränken sich schon bekannterweise gegenseitig ein. Die Regulierung der Meinung war aber immer schon Teil der Demokratie, was rechtliche Parameter wie Verleumdung, Volksverhetzung oder das Verbot der Leugnung des Holocaust belegen. Diese Freiheit hört schon allein da auf, wo die der anderen Person beginnt. Wer aber unter Meinungsfreiheit die eigene Freiheit zur Beleidigung ohne Sanktionen versteht, hat weniger ein fundamentales Rechtsproblem. Es ist ein Problem des Anstands.
Die Kritik an der politischen Korrektheit wird zwar von Faschisten, Rechtskonservativen und Liberalen befeuert, erstreckt sich aber bis in die Mitte der Gesellschaft. Die ein oder andere Person hat womöglich auch den Begriff der Sprachpolizei schon im eigenen Umfeld gehört. Problematisch ist, dass die Meinungsfreiheit und die politische Korrektheit als gegenteilige Phänomene angesehen werden. Beispielsweise reißen prominente Kabarettist*innen wie Lisa Eckhart oder Dieter Nuhr unter dem Deckmantel der Meinungs- und Kunstfreiheit wild Witze auf Kosten anderer. Das dürfen sie natürlich, aber gleichzeitig fordern sie, dass sie für rassitische, sexisitische und jegliche Form von diskriminierender Handlung nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Denn sobald dieses Verhalten von Betroffenen oder solidarischen Mitstreiter*innen kritisiert wird, steht der Vorwurf einer übertriebenen Cancel Culture, einer sogenannten Abbruch-Kultur im Raum.
Bereits im Jahr 2014 entstand unter dem #cancelculture eine Bewegung in den USA, die sich von Menschen, oder Prominenten öffentlich abgrenzen möchte, deren Verhalten beleidigend oder auf verschiedenen Ebenen diskriminierend ist. “Diese Person ist für mich gecancelt", war der Ausdruck von Boykott. Besonders durch Social Media können sich nun Menschen zu verletztendem Verhalten äußern und protestieren, die durch die Strukturen und Merkmalszuschreibungen der Mehrheitsgesselschaft (der weißen, cis-hetero Gesellschaft) an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind.
Andere Menschen zu boykottieren, weil deren politische Haltung und Moral mit der eigenen nicht vereinbar sind, ist für Konservative ungeheuerlich, moralisch aufgeladen, irrational. Der Trend, sich klar von persönlich inakzeptablen Dingen abzugrenzen, wird als riesige Bedrohung der Debattenkultur, Meinungsfreiheit und dem Status Quo wahrgenommen. Aus diesem Bedrohungsgefühl hat sich mit der Zuschreibung einer “Cancel Culture” ein Kampfbegriff für Rechtskonservative etabliert. Ihre Angst vor einer “Verbotskultur” geht letztlich einher mit der Angst davor, die eigene Meinungshoheit zu verlieren. Denn das politisch Inkorrekte bestärkt die bestehenden Machtstrukturen, bei denen Minderheiten weiterhin unten gehalten werden sollen. Schließlich wolle man nicht ständig Rücksicht nehmen auf die paar Menschen, die sich durch einzelne Aussagen angegriffen fühlen. Und was löst das ganze aus? Hinter der Fassade “Man wolle sich nicht den Mund verbieten lassen, sich nicht ständig moralisch bewerten lassen für Dinge/Situationen der Vergangenheit”, werden (un-)bewusst die Werte und Ansichten einer pluralistischen Demokratie, also einer kulturell vielschichtigen und vielfältigen Gesellschaft, weiter in die Ecke gedrängt.
Es fällt auf, dass das Prinzip und Konzept der politischen Korrektheit von vielen Menschen missverstanden wird. Es geht nicht darum, auf eine Person einzutreten, die nicht politisch korrekt spricht oder sich so verhält. Eine Kritik bedeutet nicht gleich alle Facetten dieser Person oder womöglich ihr künstlerisches Schaffen herabzuwürdigen. Es geht explizit darum, andere Menschen auf ihr Fehlverhalten und die Konsequenzen hinzuweisen, was im Prinzip in einem Gesellschaftsvertrag und im Zusammenleben völlig legitim ist.
Genau das wird auch bei Cancel Culture missverstanden. Canceln bedeutet nicht nur Kritik, sondern den Ausschluss von Positionen in einem einfachen Aushandlungsprozess über Werte und Normen, die Menschen akzeptieren wollen oder eben nicht. Wichtig ist zu verstehen, dass canceln nur impliziert, nicht grundsätzlich alles hinnehmen zu müssen. Es bedeutet, für sich selbst klare Grenzen des Sagbaren zu setzen und sich von Menschen zu distanzieren, sie also zu canceln, wenn sie die eigene Grenze überschreiten. Klar ist auch, dass auf Social Media eine Kritik schnell in unreflektierten Hass mündet. Wie im echten Leben, können nicht aus allen Menschen Freunde werden. Auf dem Social Media Marktplatz muss mit Widerspruch und Distanzierung gerechnet werden. Es müssen nicht alle Personen akzeptiert werden, manchmal reicht es sie zu ignorieren und damit zu tolerieren.
Das ist und bleibt ein Lernprozess: Die Anerkennung von Menschen und deren Ambivalenz ist dabei ausschlaggebend. Du kannst ein riesen Fan von J. K. Rowlings Harry Potter-Universum sein und sie trotzdem für ihr trans-feindliches Verhalten canceln. Es geht nicht darum, keine Harry Potter-Filme mehr anschauen zu dürfen, sondern ihr keine Plattform für ihr transphobes Aussagen zu geben. Besonders Prominente, werden dadurch schon nicht in den Ruin getrieben. Schließlich sind Kapitalinteressen nicht an die Interessen von Minderheiten gekoppelt – ganz im Gegenteil, es geht darum die hierarchischen Gedankenstrukturen zu erhalten.
Das Ziel dieser Debatte wird aus den Augen verloren: Einen Sprachgebrauch zu etablieren der möglichst diskriminierungsfrei ist. Unsere Sprache reproduziert Stereotype (Rollenbilder) und Stigmata, die Einzelne wiederum verinnerlichen. Sobald gewisse Begriffe, die historisch- und situationsbedingt negativ konnotiert sind, oder sogar ein Tabu brechen, letztlich nicht kritisiert werden, schleichen sie sich wieder in den normalen Sprachgebrauch. Und dann fällt es schwerer später eine klare Trennlinie zu setzen, zwischen dem was toleriert wird und eben nicht, zwischen dem was Minderheiten schützt und eben nicht. Freiheiten, wie die der eigenen Meinungsäußerung, dürfen sich nicht auf irgendeinen Wahrheitsbegriff stützen. In einer demokratischen Gesellschaft sind Freiheiten kein Ziel, das erreicht wird und dann gut ist, sondern ein ständiger, durch und durch kämpferischer Prozess. Es geht darum, innerhalb einer Streitkultur mit Dissens und Widerspruch zu rechnen und sich weiterhin als Teil der Gesellschaft zu sehen. Das bedeutet für die Autorin cyberliz politische Korrektheit.