Lilly | 02.12.21
CW: Depression, Panikattacken, Angstzustände
Dieses Jahr habe ich gemerkt, dass vieles, was ich über mich geglaubt habe, nicht in Stein gemeißelt ist. Mir sind Dinge passiert, die ich zuvor nur aus Erzählungen kannte. Zwar ging es mir letzten Winter auch schon nicht gerade hervorragend, trotzdem zählte ich mich da noch zu den Personen, die sich rein aus Interesse und Willen zur Empathie Wissen über psychische Erkrankungen aneignen. Ich hatte mir Dinge vorstellen können, jedoch nicht nachvollziehen. Dann hatte ich das erste Mal eine Panikattacke und ich merkte wieder einmal, dass so vieles im Leben erst begreifbar ist, wenn man es selbst erlebt hat.
Auch Depressionen waren lange etwas, was ich mir schlichtweg nicht hatte vorstellen können. Bisher war ich immer in der Lage gewesen, mich aus Tiefs wieder heraus zu ziehen, konnte mich besser ablenken; überhaupt kannte ich noch nicht die Dimensionen von Tiefs, wie sie mir nun vertraut sind.
Ich funktioniere nicht mehr in meinem eigenen System, kann mein früheres Pensum nicht halten und werde meinen Ansprüchen nicht gerecht.
Ich sage plötzlich Verabredungen ab und habe nicht mehr die Zuversicht, dass ich Sachen schaffe, die zuvor ganz normal waren.
Oft habe ich keine Kapazitäten für andere Menschen, weil ich so in meinen eigenen Grübeleien gefangen bin.
Ich habe keine Energie, geschweige denn Lust, mich mit der Zukunft zu beschäftigen, weil die Perspektive fehlt.
Und dann ist da noch diese Angst, wie ich sie davor nie kannte. Manchmal ist sie konkret, manchmal einfach diffus, ein übermächtiges, lähmendes Gefühl, was meinen Magen nervös macht und mich dazu bringt, für den Moment nie wieder das Haus verlassen zu wollen. Ich kann mich so sehr in Angstgedanken hineinsteigern, dass ich jeden einzelnen davon glaube und die ergrübelten Horrorszenarien für die Realität halte. Und das alles, obwohl ich eine junge Frau bin, die durch die Pandemie weder existenziell bedroht ist, noch schlimme Schicksalsschläge erlitten hat. Die eigentlich vieles im Leben hat, das sie glücklich machen sollte oder könnte. Wie soll es denn da anderen gehen?
Die Perspektivlosigkeit macht mich fertig. Ich bin jemand, die immer gerne vorausplant, die Vorfreude auf Dinge braucht. Mittlerweile bin ich so daran gewöhnt, dass Karten, die man kauft, verfallen, dass Events abgesagt werden, dass vom einem Tag auf den nächsten wieder alles anders sein kann. Ich selbst bin so desillusioniert, dass ich es gar nicht mal mehr so schlimm finde. Naja, halt wieder eine Sache weniger, ein Termin, der aus dem Kalender gestrichen wird. Am Anfang der Pandemie habe ich darum jedes Mal sehr getrauert. Jetzt lasse ich nicht einmal mehr zu, mich auf etwas zu freuen, weil eben jede Verabredung, jeder Plan immer unter Vorbehalt stattfindet. Ausblicke, die Trost gespendet hatten, fallen einfach weg, mit ihnen die Perspektive.
Die Zeit vor der Pandemie, in der man gefühlt einfach alles machen konnte, was man wollte, die so grenzenlos scheint, so frei und unbeschwert, fühlt sich unendlich weit entfernt an. Wie absurd, wie unbegreiflich, dass das etwas ist, was in dieser Form noch nie oder zumindest sehr lange nicht passiert ist; mit dem so viele Menschen (in ihrer Jugend) nie zu kämpfen hatten.
Ich könnte jetzt wütend sein über die Verantwortungslosigkeit der Politik, die trotz Warnungen ihre Fehler einfach immer wieder wiederholt, man könnte doch meinen, langsam wüsste man es besser.
Von dieser Sorte gibt es aber nicht nur schon unendliche viele Texte, sondern ich bin auch einfach zu müde dafür. Die wenige Energie, die ich habe, möchte ich darin investieren, im Minikleinen ein Fünkchen Freude zu finden und nicht, mich über die aktuellen Umstände aufzuregen. Ich möchte versuchen, herauszufinden, ob ich anderen irgendwie helfen kann und hierzu meine Kapazitäten schonen.
Wir sind weit hinaus über den Punkt, an dem man Lockdowns irgendwie verherrlichen könnte als eine Zeit der Entschleunigung, die man positiv sehen kann - jetzt haben wir ja nicht mal einen, sondern eine Situation, in der die Politik vollkommen widersprüchliche Signale sendet. Wir sehen in anderen Ländern, wie andere Politik zu einer deutlich entspannteren Situation geführt hat, während wir munter in das nächste Fiasko hineinsteuern. Isolation ist blöd, vor allem, wenn man sie sich selber verordnet und die anderen nicht mitmachen. Ständige Angst ist aber auch blöd, von der Gefahr einer Infektion mal ganz zu schweigen.
In dieser Zeit ist es also vollkommen legitim, irgendwas zu tun, was einem Freude bringt, sofern man sich das in der eigenen Situation irgendwie leisten kann. Und sei es, sich mit Serien zu betäuben, den ganzen Tag zu puzzeln, Unmengen von Schokolade zu futtern, ins Solarium zu gehen (gesehen bei
@dariadaria) oder den ganzen Tag zu schlafen. Ich könnte jetzt mit lauter Tipps kommen, was man alles Kreatives oder Meditatives machen könnte, aber Bananenbrotrezepte haben alle zu genüge ausprobiert und stricken kann wahrscheinlich auch schon die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Versucht einfach, euch und anderen nicht aktiv zu schaden und irgendwie durch diesen Winter zu kommen. An manchen Tagen gelingt das besser als an anderen - es bleibt die Hoffnung, dass dieser Albtraum tatsächlich irgendwann vorbeigeht - oder zumindest der nächste Sommer wieder gut und ein wenig sorgloser wird.