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„Dicke Autos ja, aber doch bitte keine dicken Frauen!“

Toni | 07.02.2023

Dienstagabend in der Münchner Innenstadt: ein Raum voller Frauen  verschiedenster Generationen, Mindsets und Lebensgeschichten. Mütter mit ihren Töchtern, Freundinnen, Schwestern, Großmütter mit ihren Enkelinnen und Book-Club ähnelnde Frauengruppen. Eine spürbar harmonische und galante Atmosphäre, auf den Gesichtern erkennbare Vorfreude. Vereinzelt treten auch Männer aus diesem „Frauenrudel“ hervor, die ihren Begleiterinnen zurückhaltend zur Seite stehen oder stumm im Programmheft blättern.

Was all diese Frauen zusammenführt, beschäftigt und eventuell auch selbst betrifft, bündelt sich in dem Roman „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher, die ihr Werk an diesem Ort vorstellt, anlässlich der Simone-de-Beauvoir-Ausstellung im Literaturhaus München. 90 Minuten lang widmet sich die Autorin im Gespräch mit Viola Schenz der weiblichen Körperlichkeit und Selbstbestimmtheit, der Selbstermächtigung von Frauen im Kampf gegen die männlichen Erwartungen und Vorbehalte gegenüber dem Frausein.


Der autofiktionale Roman spielt in einer deutschen Provinz in den 80er Jahren und beschreibt die Lebenssituation der kleinen Ela, welche die ständige Diskriminierung und Verachtung des Vaters gegenüber dem Körpergewicht der Mutter miterlebt. Für das Oberhaupt der Kleinfamilie sind gesellschaftliches Ansehen und beruflicher Aufstieg existenziell und in seiner übergewichtigen, ihm in Bildung und Klasse überlegenen Ehefrau sieht er eine potenzielle Gefährdung für sein Idealbild. Der Alltag besteht aus Streitigkeiten über Geld und das Erscheinungsbild der Mutter, das ihr permanent vor Augen geführt wird. Ihre Leistung als Ehefrau, Mutter und Schwiegertochter unterliegt der Bewertung des Ehemannes. Die Wahrnehmung der kleinen Tochter wird täglich mit einem idealisierten weiblichen Schönheitsbild infiziert. Das junge Mädchen schwankt im Roman immer wieder zwischen den Rollen der Geisel und Komplizin: Sie versucht an einigen Stellen, ihre Mutter aufzuheitern, ertappt sich jedoch beim Anstarren dieser, vergleicht im Schwimmbad die anderen Frauenkörper mit dem ihrer Mutter, beginnt sich für sie zu schämen, schämt sich daraufhin selbst für ihre Scham und entwickelt Schuldgefühle. Ein Teufelskreis, der die Zuhörer*innen nicht unberührt lässt. Ganz getreu der Natur eines Kindes, nimmt Ela die angespannten Verhältnisse wahr, kann die Situationen und das psychologische Ausmaß für die Mutter aber nicht deuten und flüchtet sich daraufhin in ihre Scham- und Schuldgefühle. Seit dem Umzug von der Großstadt ins Dorfleben leidet die Mutter an ihrer Gewichtszunahme. Ela glaubt, sie sei der Grund dafür, schließlich sollte sie doch nahe der Natur groß werden.

 

Die Schriftstellerin erzählt, sie habe sich bewusst für die kindliche Erzählperspektive entschieden, um die eigenen Empfindungen bezüglich ihrer Kindheit zu kanalisieren und so die Scham „erwachen“ zu lassen, die die kleine Ela weder verstehen noch deuten kann. Die Fiktion sei für sie ein Instrument zur Selbsterkenntnis gewesen. Zudem war dies sowohl für sie selbst als auch für ihre Mutter ein wichtiger Schritt, die vergangenen Geschehnisse zu realisieren und zu verarbeiten. Auch auf das Verhältnis der beiden soll es sich positiv ausgewirkt haben. Die Autorin berichtet mit einem Schmunzeln auf den Lippen über die Freude ihrer Mutter, dass sich Frauen heutzutage viel mutiger und selbstbewusster zeigen, als sie selbst es damals war. Hat sich also das Frauenbild aus den 80er Jahren bis heute gewandelt? Oder tappen wir immer noch gebeugt oder verängstigt den „männlichen" Werten hinterher? 


Wie einst die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir sagte: „Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es.“ Der Roman zeigt klar und deutlich, wie es um die weibliche Selbstbestimmung und -ermächtigung im patriarchal geprägten System steht. Egal wo wir hinsehen, in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Familienstrukturen und Erziehung, Sexualität oder Geschlechterverhältnisse, ja sogar bei der individuellen Identitätsbildung, überall schleicht sich eine tiefgreifende Verinnerlichung der männlichen Erwartungen an Frauen ein, bis heute noch.


Im Gespräch zwischen Dröscher und Schenz kristallisiert sich die Rolle des Schamgefühls heraus, sowie dessen Missbrauch durch die Werbeindustrie. Die beiden Frauen schildern, dass Scham im Prinzip nur Frauen zugeschrieben werde, denn wer spräche schon über eine „Prostata-Scham“, wenn es doch die gute alte „Periodenscham“ gibt. Allerdings dürfe man nicht vergessen, dass Männer ja auch einen gewissen Gefühlsanteil haben, der nicht nur Hass, Wut und Aggression beinhaltet. Die Gesprächspartnerinnen erklären sich die Trauer des Vaters, persönlich und beruflich nicht anerkannt zu werden, als eine Art soziale männliche Scham.


Klar wurde mir durch die Lesung erneut das Machtpotential der Industrie, die unsere Körper für uns per se hässlich, falsch und defizitär erscheinen lassen. Direkt zu Beginn eines neuen Jahres schlägt die Keule der Werbebranche zu und konfrontiert Herz, Hirn und Seele mit Anzeigen für ein dreimonatiges kostenloses Training im Fitnessstudio gleich um die Ecke, überhäuft das Gewissen mit den besten Neujahrsvorsätzen und den zehn effektivsten Diäten. Wer Ende Januar dann immer noch nicht genug hat oder, Gott bewahre, noch nicht auf den Zug in Richtung „Happy-me-happy-life“ aufgesprungen ist, der hat ja noch ab Februar die Chance, sich von der traditionellen Fastenzeit einnehmen zu lassen. So, don´t worry, you will be thin and healthy! Soll das etwa eine großartig aufgeklärte neue Welt sein?

Blicke man zurück, so Dröscher, lasse sich erkennen, dass all die (Körper-) Ideale unserer Gesellschaft sich primär auf Frauen beziehen und mit enormem Druck auf diese einwirken. Soweit, dass Mütter täglich Unterdrückung und Missbilligung ihrer Partner ertragen, dass junge heranwachsende Mädchen über Kloschüsseln hängen für den Sommer in der perfekten Bikinifigur. Dass selbstständige Frauen sich schämen, ja sich vielleicht sogar selbst hassen, wenn sie Geld verdienen, statt den „natürlich" für sie vorgesehenen Aufgaben von Müttern nachzukommen. Im Publikum nickende Köpfe.


Weshalb tragen Frauen dieses Vermächtnis der ewig weiblichen Perfektion über Generationen hinaus mit sich mit? Warum lässt die Mutter von Ela all die Wut und Verzweiflung des Ehemannes über sich ergehen, wenn sie doch die Möglichkeit einer ökonomischen Unabhängigkeit hat? Bezüglich der Mutterschaft ist das Motiv recht einleuchtend: Sie tut es aus Liebe. Die Kinder sollen doch in guten, beständigen heterosexuellen Familien groß werden und nicht in verkorksten Lebensverhältnissen von Alleinerziehenden oder homosexuellen Beziehungen. Ich beobachte, wie die Frauen um mich herum sich die Hand geben, als sprächen sie im Geiste miteinander: „Mir erging es auch so. Du bist nicht allein.“ Ein zugleich herzerwärmendes wie -zerreißendes Gefühl. 

Daniela Dröscher und auch ihre Mutter zeigen sich überzeugt davon, dass sich besonders Community- und Aufklärungsarbeit als effektives Mittel gegen sexuelle, gesellschaftliche und „sexistisch-ideologische“ Unterdrückung und Machtdynamiken zeigen. Dröscher sieht zudem vor allem die Literatur beziehungsweise die Fiktion als potenzielles Erkenntnisinstrument. Sie erzählt von einem ihrer Lieblingsautoren, Édouard Louis, der es ähnlich formuliert: "Ich wollte aus der Gewalt einen literarischen Ort machen, […] so wie Marguerite Duras das mit der Leidenschaft gemacht hat oder Claude Simon mit dem Krieg. Es geht um die Gewalt, die meist unsichtbar ist. Genau darin besteht die Kraft der Literatur: Mit Worten das Unsichtbare zu zeigen."[1]


Laut vieler Rezensionen ist Daniela Dröschers Roman ein Werk, das man lieben und hassen kann. Die kleine Ela packt Herz und Verstand, rüttelt daran und wartet darauf, dass Emotionen wie Wut, Hoffnung, Begeisterung oder Trauer emporkommen. Wir fühlen mit und nicht nur, weil wir Frauen, Mütter, Töchter, Ehemänner oder Freunde sind, sondern weil wir Menschen sind. Sowohl die Autorin als auch ihr Roman erhalten die Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten*innen und regen sie zum Nach- und Überdenken der Gegenwart an. Eine ergreifende Geschichte, die einem die nackte “dicke” Wahrheit über Gewalt zwischen den Geschlechtern vor Augen führt. Auf dem Nachhauseweg fühle ich mich geerdet und trotz allem stolz, Frau zu sein.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89douard_Louis / Alex Rühle: Wie aus einer Vergewaltigung eine literarische Aufarbeitung wird. In: sueddeutsche.de. 3. September 2017, ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 3. Dezember 2017]). 

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