Seit knapp drei Monaten bin ich nun schon in Spanien, genauer gesagt in Murcia, ca. eine Stunde vom Mittelmeer entfernt. Wie bei allen ereignisreichen und intensiven Lebensphasen werde ich wahrscheinlich erst im Nachhinein verstehen, was diese Zeit für mich bedeutet. Entgegen aller alpträumerischen Vorhersagen der Erasmus-Beauftragten meiner Uni ist die Corona-Situation hier schon seit Februar um Meilen besser als in Deutschland. In meiner ersten Woche war ich das erste Mal seit sechs Monaten in einer Bar, und das sogar drinnen. Für mich ein Wahnsinn, für die Leute hier scheinbar Alltag. Mittlerweile sind über zehn Wochen vergangen und Präsenzuni, Restaurantbesuche, wochenendliche Strandausflüge sowie kleinere Partys sind auch für mich etwas ganz Normales geworden. Nach mehr als einem Jahr Pandemie denkt man, die Lockdown-Erfahrungen würden einen für immer prägen, sodass man die eigenen Freiheiten viel bewusster wahrnimmt und wertschätzt. Doch der Mensch ist ein Gewohnheitstier - die murcianische "nueva realidad” hat Einzug gehalten und immer wieder vergesse ich, wie es war, mir die ganze Zeit Gedanken zu machen, wieviele Leute ich heute gesehen habe und ob ich mit fünf, sechs oder sieben Menschen zum Essen gehe. Selbst die Tatsache, dass ich um ein Haar Bekanntschaft mit Corona gemacht hätte, hat das nicht verändert.
Plaza Santo Domingo, Murcia
Lange Tapas- Nächte
Ich gehe durch die engen Gassen in Richtung Kathedrale. Wie schön, denke ich, dieses Leben. Die Leute sind zusammen, es ist warm, die Hitze des Nachmittags steigt dampfend vom Boden auf und erfüllt die Gässchen mit einem badewannigen Gefühl.
Es ist 10 Uhr abends und die Leute treffen sich zum Tapas-Essen, ganz nach meinem Geschmack. Wie schön, dass hier im Mai schon Sommer ist, dass wieder Leben eingekehrt ist, dass ich hier bin. Von links quatscht mich eine junge Frau an, die mir irgendeinen Handyvertrag andrehen will, rechts passiere ich ALE-HOP, den Ramschladen für alles. Es ist schon 9, trotzdem ist es noch so hell wie am Nachmittag und hat laue 25 Grad. Die Geschäfte sind geöffnet, die Leute sitzen dicht an dicht in den Tapasbars und unterhalten sich wild gestikulierend. Während ich über die Plaza Santo Domingo gehe, betrachte ich verträumt die Blumentopf-Konstruktion (s.Bild) und die Palmen.
Verrückt, wie schnell man sich auch daran gewöhnt, als ich angekommen bin, bin ich fast ausgeflippt.
Chaos im Kopf
Für mich als absoluter Sprach-Nerd ist dieser Aufenthalt eine willkommene Herausforderung. Ich studiere Spanisch und habe somit maximalen Nutzen von Erasmus in Spanien, weil ich neben dem alltäglichen Input auch noch die offiziellen Inhalte aus der Uni mitbekomme. Während ich mit meinen Freundinnen über Pizza, Cocktails und Tinto de Verano sitze und alle wild durcheinander schnattern, drifte ich immer wieder ab. Ich bin 24/7 damit beschäftigt, alles zu sezieren, was Leute sagen, sowohl auf phonetischer als auch grammatikalischer Ebene alles zu reflektieren und nicht zuletzt mich für meine eigenen Fehler zu geißeln.
Auch wenn mein eigener Perfektionismus der Motor ist, der mich antreibt, ist es oft ziemlich anstrengend. Zum Glück gibt es mit den Erasmus-Leuten eine Art Safe Space, in dem man entspannt üben kann, weil wir alle keine Muttersprachler*innen sind. Zum ersten Mal habe ich ein wenig Einblick, was es heißt, wenn um einen herum niemand die eigene Muttersprache spricht - wobei das in meinem Fall im sicheren und selbst gewählten Rahmen einer Studienreise passiert und ich selbst vor allem ja gut Spanisch spreche. Mir ist total bewusst, dass es ein Privileg ist, dass mein größtes Problem im Alltag die Angst ist, sich beim Sprechen mit Einheimischen zu verhaspeln. Trotz meines hohen Anspruchs bewundere ich total, dass manche Leute einfach intuitiv drauf los quatschen, da sie im Endeffekt viel lebensfähiger sind als ich.
Ehrlich gesagt sind viele der Situationen, über die ich mir im Vorhinein schon den Kopf zerbrochen habe, eingetreten, aber sie waren eigentlich gar nicht so schlimm und im Nachhinein sind es die Anekdoten, die ich mit nach Deutschland bringen werde.
Strandpromenade in Águilas, Murcia
Kontrastprogramm
Ich sitze mit meiner italienischen Freundin Martina in einem für Murcia sehr überteuerten, wie sie sagt “kapitalistischen” Burgerladen und wir beschweren uns über das schlechte Preis-Leistungs-Verhältnis mit den viel zu kleinen Burgern.
Gentrifizierung ist natürlich auch hier ein Thema und bei allen Aktivitäten, die wir als Studierende so unternehmen, bekomme ich immer wieder zu spüren, was das für einen Unterschied macht. Als ich mit einigen Mädels gleich zu Beginn des Aufenthalts ein paar Tage am Meer verbracht habe, war das natürlich das Highlight für uns mit Sonne, Strand und Palmen.
Wenn ich mir allerdings vorstelle, dort leben zu müssen, sähe die Welt ganz anders aus. Es ist halt dann schön, wenn man nach dem Strandurlaub wieder in die gut vernetzte, infrastrukturell und wirtschaftlich stabile Großstadtrealität zurückkehren kann, weniger, wenn man auf unterbezahlte Arbeit im momentan stark leidenden Tourismussektor angewiesen ist.
Mit deinen Worten
Martina und ich kommen wie so oft auch auf das Thema Sprache zu sprechen.
Sie ist eine der Personen, die versteht, wie es in meinem Kopf aussieht, weil sie auch Sprachen studiert und genau wie ich auch daran interessiert ist, sich ständig zu verbessern. Nachdem wir immer wieder auf Erasmus-Leute getroffen sind, die kein Spanisch sprechen, wird das zum Gesprächsthema. “Ich frage mich, wie man sich dann verständigt, geschweige denn studiert. Mit Englisch kommt man hier nicht weit” sage ich. Martina dippt ihre Pommes in mein Ketchup und lächelt mich verschmitzt an, weil sie mir gerade, als ich welches holen war, noch gesagt hat, sie würde keines wollen.
”Ich weiß schon, aber das ist für uns auch was anderes, weil wir einen anderen Anspruch haben und gleichzeitig die Kapazitäten, den umzusetzen.”
Ich will etwas entgegnen, aber dabei verhaspele ich mich und Martina reagiert, wie sie es immer tut, wenn ich Wörter rate oder mir ein Fehler passiert. Im Italienischen ist es scheinbar üblich, jemandem gut zureden, wenn er oder sie nach Worten ringt und man sagt etwas wie “in deinen eigenen Worten”. Bei uns hat es sich allerdings etabliert, das zu sagen, um uns gegenseitig zu verarschen.
“Con tus palabras” sagt sie grinsend in ihren Burger hinein und obwohl ich es erwartet habe, verschlucke ich mich fast an meiner Cola.
Life in Plastic
Als Person, die normalerweise darauf achtet, was sie einkauft und wo, werde ich hier nicht glücklich. Vegane Restaurants und Supermärkte gibt es praktisch nicht, in Mercadona (dem gängigen Supermarkt) muss man für jedes Gemüse eine extra Plastiktüte nehmen und das darf man auch nur mit dafür vorgesehen Plastikhandschuhen anfassen. Klar, auch wegen Corona und so. Aber für mich im ersten Moment ein Albtraum. Genauso wie die Eier, bei denen es keinen Unterschied in der Haltung gibt, die alle gleich billig und in Plastik verpackt sind. Bio ist hier eher ein Fremdwort, sodass ich im Supermarkt immer sehr lange überlege, was ich kaufe und mich im Endeffekt von Hummus, Salat und Nudeln ernährt habe. Ach ja, und man kann das chlorige Leitungswasser hier nicht trinken, sodass wir ständig Wasserflaschen schleppen. Und es gibt auch kein Pfandsystem, sondern verschiedene Müllcontainer auf der Straße - ein Fest für die Kakerlaken, die sich im Laufe des Frühjahrs auch in vielen Wohnungen einnisten.
Immer mit der Ruhe
Es sind unter anderem Momente wie diese, wo ich mich mit meiner eigenen Deutschheit konfrontiert fühle und merke, dass ein gewisser Grad an Verwöhntheit daher rührt, dass ich mich mit vielen Problemen, die die Leute hier haben, sicherlich nie auseinandersetzen musste. Ich musste erst verstehen, dass hier alles
“con calma”
(dt. 'mit Ruhe/Gelassenheit') passiert und es im alltäglichen Leben viele Dinge gibt, für die es hier nur ungeschriebene Gesetze gibt, nicht akribisch reguliert wie in Deutschland.
Die Leute leben und lassen leben, das scheint ein stiller Konsens zu sein, den man als nicht einheimische Person nicht kennt.
Alles neu
Mir ist in jedem Fall klar geworden, wie wichtig und wertvoll es ist, Erasmus machen zu können.
Ich habe so viel Einblick in die Lebensrealität anderer Menschen bekommen, in anderssprachige Denkweisen und Lebenseinstellungen. Es ist krass, nach einer Zeit der Isolation und eintönigen Tristheit der immer gleichbleibenden eigenen vier Wände plötzlich in einer Situation zu sein, in der alles ständig neu ist. Jedes mal, wenn ich die Wohnung verlasse, lerne ich neue Leute kennen, neue Orte. Jedes mal Gespräche, bei denen man von null anfängt.
Wer bist du, was machst du, woher kommst du? Die Telefonate mit meinen Freund*innen und Familie Zuhause haben so umso besser getan, weil ich da nicht jedes Mal bei Adam und Eva anfangen muss. Trotzdem ist es super spannend, festzustellen, wie man Menschen gegenüber wirkt, die man noch nie gesehen hat, die in dieser Zeit ja nur den Erasmus-Teil der eigenen Persönlichkeit kennenlernen, noch dazu auf einer anderen Sprache. Ein Stück weit ist es also auch eine ganz neue Begegnung mit sich selbst.
Ich Anfang April am Strand von Águilas