In jeder Diskussion über Feminismus mit einem cis Mann, ob es nun um gender pay gap, Vorurteile oder sexistische Witze ging, ist mir an irgendeinem Punkt das vermeintliche Totschlagargument „aber Frauen sind da halt einfach anders, das ist ja auch gut so“ begegnet. Schließlich ist der biologische Aspekt klar: da gibt’s Männer mit einem X- und einem Y-Chromosom und Testosteron und Frauen mit zwei X-Chromosomen und Östrogen. Und das sind halt nun mal ganz einfache biologische Voraussetzungen, die Frauen von Männern unterscheiden.
Diese Grundlage kann und möchte ich nicht bestreiten. Doch ab jetzt wird’s schon komplizierter. Was ist mit Menschen, die zwei X- und ein Y-Chromosom haben? Oder mit Menschen, die nur ein X-Chromosom aber kein Y-Chromosom haben? Was ist mit trans Menschen, die sich in ihrer Transition befinden und vielleicht männliche primäre Geschlechtsmerkmale haben, aber auch mehr Östrogen als es für einen cis Mann typisch wäre? Guckt euch mal einen Bienenstock an, oder schwangere männliche Seepferdchen, oder Fische, die ihr Geschlecht wechseln, oder zweigeschlechtliche Schnecken, oder eins der anderen unzähligen Beispiele dafür, dass die Natur komplex ist. Es ist zu einfach gedacht, Menschen in ein binäres Geschlechtersystem zu packen. Hormone können auf jeden Fall wesentliche Unterschiede im Körperbau und in der Psyche ausmachen und tun dies auch, aber wie kommt man darauf, das alles so umzudichten, um das weibliche Geschlecht zum „schwachen“ Geschlecht zu machen und daraus ausdifferenzierte Charaktereigenschaften und Fähigkeiten abzuleiten? Was sagt die Wissenschaft und was macht die Biologie für einen Unterschied? Ich habe mir da mal ein paar Klischees näher angeschaut.
Wagen wir den Einstieg gleich mit einem schwierigen Thema: Frauen und ihre Mutterrolle. Wenn ich mich durch Internetblogs und Zeitschriften für Mütter klicke, dann stoße ich immer wieder auf den Begriff „Mutterinstinkt“. Vielleicht liegt es an meiner eigenen Kinderlosigkeit, dass ich keine Ahnung habe, was das überhaupt heißen soll. Es geht da wohl um eine sehr intensive Mutter-Kind-Bindung, ein instinktives Erahnen der kindlichen Bedürfnisse durch die Mutter und ein angeborenes Verantwortungsbewusstsein der Mutter für ihr Kind. Kein Zweifel– menschliche Kinder sind nach ihrer Geburt so unfähig, dass sie ohne elterliche Fürsorge nicht überlebensfähig wären. Und Mütter, da sie ja im Normalfall die Gebärenden sind, sind da wohl die naheliegende Wahl. Wirft man einen Blick ins (Säuge-)Tierreich, fällt auch auf, dass sich häufig die weiblichen Tiere um den Nachwuchs kümmern. Diese können sich schließlich auch sicher sein, dass es ihr eigener Nachwuchs ist, den sie da großziehen. Evolutionär gesehen mag es daher sinnvoll gewesen sein, dass eher Frauen ihre Kinder aufgezogen haben. Dazu kommt, dass während der Schwangerschaft und auch darüber hinaus vermehrt das Hormon Oxytocin gebildet wird. Dieses Hormon spielt eine zentrale Rolle und ist unter anderem wichtig für die Kontraktion der Gebärmutter, für Milcheinschuss und eben auch für zwischenmenschliche Bindungen. Es wird nicht umsonst umgangssprachlich auch „Kuschelhormon“ genannt. Nun der Clou an der ganzen Geschichte: Auch bei Großmüttern, nicht-biologischen Müttern und – siehe da – auch bei Männern kann sich der Oxytocin-Spiegel bei Kontakt zu Neugeborenen erhöhen. Bei Vätern dauert das manchmal nur ein wenig länger. Den „Mutterinstinkt“ haben also nicht nur cis Frauen exklusiv(1). Menschen, die schwanger werden können, sind vermutlich eher dazu prädestiniert, vermehrt Oxytocin und damit eine intensivere Bindung zum Kind auszubilden. Das heißt aber nicht, dass nicht-gebärfähige Menschen, unter anderem eben cis Männer, das nicht auch können. Zu behaupten, dass nur cis Frauen den nötigen „Mutterinstinkt“ haben und daher sie sich um die Kinder kümmern sollten, ist eine sehr vereinfachte Sicht und in erster Linie ein Freifahrtsschein für cis Männer, sich den haushaltlichen Aufgaben zu entledigen und sich auf die Karriere fokussieren zu können – selbst wenn ihre Frau das vielleicht auch gerne würde. Das Bild der Frau mit Mutterinstinkt passt eben auffällig gut zu dem kapitalistischen patriarchalen System, das Frauen ausbeutet, in dem diese für unbezahlte Care-Arbeit zuständig sind. Einfach nur weil die Biologie das anscheinend so vorgibt. Übrigens: Gerne sollen Frauen weiterhin glücklich in ihrer Mutterrolle aufgehen, deswegen sind sie nicht weniger feministisch. Die Frage, welcher Elternteil sich vermehrt um das Neugeborene kümmern wird, sollte aber nicht auf der Basis von vagen biologischen Tendenzen oder gesellschaftlichen Ansprüchen geschehen. Das drängt alle Geschlechter in vorgefertigte Rollen, unter denen letztlich jede*r leiden kann.
„Haha! Ein Mann – ein Wort. Eine Frau – ein Wörterbuch! Das ist halt deswegen so lustig, weil es wahr ist. Das sagen sogar Studien.“ Wahrscheinlich haben die meisten von euch schon mal davon gehört, dass Frauen anscheinend 20.000 Wörter am Tag reden und Männer nur 7.000. Fun fact: Jegliche Zeitungsartikel, die das behaupten, berufen sich auf ein und dieselbe Neuropsychiaterin aus den USA, die im übrigen eher für populistische Aussagen bekannt ist als für ihre einwandfrei korrekte wissenschaftliche Arbeit (2,3). Neuere Studien zeigen etwas ganz anderes: Es gibt keine geschlechtsspezifischen Unterschiede, im Schnitt reden sowohl Männer als auch Frauen 16.000 Wörter am Tag (4).
„Ich bräuchte hier mal schnell ein paar starke Männer“. Zu Darwin’s Zeiten musste frau sich nicht nur das anhören, sondern auch noch gegen die intellektuelle Unterlegenheit argumentieren. Das hat sich zwar mittlerweile verbessert, aber das Bild der schwachen Frau bleibt. Frauen sind im Durchschnitt kleiner und leichter … und können weniger schwer heben oder wie soll körperliche Unterlegenheit definiert sein? Anscheinend geht es dabei nicht um körperliche Gesundheit, da sind Frauen mit ihrer höheren Lebenserwartung nämlich besser dran (5). Interessanterweise hatten weibliche Neandertalerinnen, also ausgestorbene Verwandte des modernen Menschen, 10 % mehr Muskelmasse als der heutige Durchschnittsmann (6). Dass Männer gejagt und gekämpft und Frauen nur Beeren gesammelt haben, stimmt im Übrigen auch nicht ganz. Man(n) ist nur bei Skelettfunden, neben denen Waffen lagen, immer davon ausgegangen, dass es sich um ein männliches Skelett handelt. Selbst wenn dieses ein eher weiblich geformtes Becken hatte. Insbesondere in den Anfängen der Archäologie konnten voreingenommene Forscher sich nicht von damaligen Familien- und Rollenkonstrukten lösen: Muss ja ein Mann gewesen sein, da liegen ja Waffen. Logisch. Dank heutiger DNA-Analysen konnte da der ein oder andere Irrtum aufgeklärt werden (7,8). Nun, zurück in die Gegenwart. Weibliche Körper sind anders geformt und haben andere Fett- und Muskelverteilungen. Und ja, im Durchschnitt sind Frauen wohl schwächer als Männer (9). Manches davon ist gewiss biologisch gegeben, anderes kommt durch gesellschaftlichen Druck. Nicht selten hört man Aussagen wie: „Welcher Mann will schon eine Frau, die stärker ist als er?“. Ich denk mir da eher immer: „Hm, interessant, hast du etwa Angst, dass diese Frau ihre Stärke so ausnutzen würde, wie viele Männer dies augenblicklich tun?“. Ach, eins noch: Vor Löwinnen oder Krokodilinnen würde ich immer versuchen, wegzurennen – schwaches Geschlecht hin oder her.
Nicht nur Frauen leiden unter geschlechtsspezifischen Rollen. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Männer sind riesig: Männer sind Beschützer und Helden, Männer sind stark, Männer können sich durchsetzen und sind dominant. Gleichzeitig stehen Männer unter dem Generalverdacht aggressiv zu sein. Dafür wiederum können sie nichts, schließlich kommt das durchs Testosteron. Deswegen ist es ja „ganz normal“, wenn sich Jungs oder auch Männer mal prügeln oder metaphorisch ihr Revier markieren, sobald sich ein potenzieller Paarungspartner der Freundin nähert. Ganz schön verzwickt, deswegen mal von vorne: Auch wenn Frauen durchaus ebenfalls Testosteron ausbilden – ebenso wie Männer Östrogene – machen die Verhältnisse deutlich: Testosteron ist typisch männlich und macht einen auch männlich. Es sorgt unter anderem für die Ausbildung männlicher Geschlechtsorgane, für Gesichts- und Körperbehaarung und für den Stimmbruch. Außerdem wirkt sich Testosteron auf die Psyche aus – und hier kommt das große vielleicht. An Mäusen konnte eine erhöhte Aggressivität bei erhöhtem Testosteron-Wert gezeigt werden. Bei Menschen fehlt bisher jeglicher kausale Beweis (10). Andere Studien wiederum zeigen sogar, dass Testosteron zu mehr Großzügigkeit, zu prosozialem Verhalten und weniger Lügen führt (12,10). Einfach zu sagen „Testosteron macht aggressiv“ wird der Datenlage in keiner Weise gerecht und ist schlichtweg falsch. Wir sollten also machohaftes, großspuriges Verhalten von Männern nicht mehr durch Testosteron legitimieren lassen. Und auch für Männer ist es nur gut, wenn dieser Vorwurf an sie aus der Welt geschafft wird. Männer können sich zügeln, Männer sind nicht einfach nur triebgesteuert, Männer müssen nicht stark oder dominant sein um als „männlich“ zu gelten. Männer dürfen sich als genauso „männlich“ sehen – sofern sie es denn wollen – wenn sie schwächer sind als ihre Partnerinnen oder sich nicht mit dem Feind gleich prügeln, sondern lieber ihre Probleme ausdiskutieren wollen. Auch trans Männer sollten nicht diesen unendlichen Druck spüren müssen, „männlich“ genug für unsere hetero- und cisnormative Gesellschaft zu werden. Weg mit der toxic masculinity!
Auch wenn dieses Klischee zu Zeiten entstanden ist, als Männer ihren Ehefrauen noch verbieten konnten, den Führerschein zu machen, finden es manche Boomer immer noch witzig, diesen alten Schenkelklopfer rauszuhauen: „Frau am Steuer – das wird teuer“. Nun erst mal zu den biologischen Voraussetzungen: das durchschnittliche männliche Gehirn unterscheidet sich vom durchschnittlich weiblichen Gehirn. In Tests zum räumlichen Sehen und den damit verbundenen kognitiven Fähigkeiten schneiden Männer im Durchschnitt etwas besser ab. Allerdings variieren die Fähigkeiten der Individuen innerhalb eines Geschlechts deutlich stärker als zwischen den Geschlechtern (14). Und auch in den Zahlen des statistischen Bundesamts in Deutschland zeigt sich keinerlei kausaler Zusammenhang: Frauen sind prozentual nicht häufiger in Verkehrsunfälle verwickelt als Männer und tragen dazu sogar seltener die Hauptschuld an Unfällen (15). Entscheidend sind eher andere Faktoren wie Alter oder emotionaler Stress auf und abseits der Straße (16). Daher am Besten nicht einschüchtern lassen und genauso selbstsicher den Platz am Lenkrad einnehmen.
Jetzt sind wir an einem Klischee angekommen, das aus einer biologischen Sicht anders bewertet werden sollte als aus einer sozialgesellschaftlichen Sicht. Wäre ja langweilig, wenn alle Vorurteile ausgedachter Unsinn wären. Cis Frauen empfanden in Studien tatsächlich stärker bei emotionalen negativen Reizen. Viel Testosteron führt zu einer Verknüpfung von zwei Hirnarealen. Stark zusammengefasst ist das eine für Gefühle und das andere für rationale Kontrolle zuständig. Da cis Frauen einen geringen Testosteronspiegel haben, ist bei ihnen diese Verknüpfung viel schwächer. Dies führt unter anderem zu ausgeprägteren Reaktionen auf negative Reize: Menschen mit wenig Testosteron, also auch cis Frauen, sind daher tatsächlich sensibler (17). Wie immer sind das aber Durchschnittswerte und Hormonhaushalte können schwanken. Sensible Männer und unsensible Frauen sind kein Widerspruch dazu, sie sind nur nicht die Norm. Und das ist ein gesellschaftliches Problem, denn wieder einmal nützt ein Vorurteil – ob biologisch berechtigt oder nicht – dazu, das patriarchalische System aufrecht zu erhalten. Ein System, indem vermehrt Frauen trotz schlechter Bezahlung pflegerisch tätig sind, einfach weil „sie von Natur aus gutherziger sind und viel eher in solchen Berufsfelder arbeiten wollen“.
Abschließend möchte ich noch eins klar stellen: Cis Frauen haben sehr wohl andere biologische Vorraussetzungen als cis Männer. Und das ist auch okay so. Das Problem ist vielmehr, dass darauf gesellschaftlicher Druck aufbaut: Wie Männer und Frauen zu sein haben, im Positiven wie im Negativen. Und sobald Menschen aus dieser Norm ausbrechen - ob trans Menschen, non-binäre Menschen oder auch einfach nur Menschen, die sich nicht mit den typischen Eigenschaften des eigenen Genders identifizieren können - werden sie automatisch an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt. Das führt dazu, dass sich viele Menschen gar nicht trauen, ihre Individualität abseits von ideellen Konstrukten auszuleben. Deswegen kann uns also gar nicht bewusst sein, wie normal eigentlich all diese “Ausnahmen” sind. Dass es gar keine Norm gibt, kein “immer”, kein “jede Frau” und kein “jeder Mann”.
1. Haben nur Mütter einen Mutterinstinkt? Forscher geben Antworten | National Geographic | National Geographic. https://www.nationalgeographic.de/wissenschaft/2018/05/haben-nur-muetter-einen-mutterinstinkt-forscher-geben-antworten.
2. Louann Brizendine: „Das männliche Gehirn“: Blondinenwitze übers männliche Geschlecht - Sachbuch - FAZ. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/louann-brizendine-das-maennliche-gehirn-blondinenwitze-uebers-maennliche-geschlecht-1999060.html.
3. Seite 3 - Das weibliche Gehirn: Die hormonell gesteuerte Gefühlsmaschine - Debatten - FAZ. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/das-weibliche-gehirn-die-hormonell-gesteuerte-gefuehlsmaschine-1410155-p3.html.
4. Reden Frauen mehr als Männer? - Spektrum der Wissenschaft. https://www.spektrum.de/frage/reden-frauen-mehr-als-maenner/1656438.
5. Lebensdauer: Warum leben Frauen länger als Männer? | ZEIT ONLINE. https://www.zeit.de/zeit-wissen/2015/03/lebensdauer-frauen-maenner.
6. Paläontologie: Neandertaler waren den Menschen oft überlegen - WELT. https://www.welt.de/wissenschaft/article5524053/Neandertaler-waren-den-Menschen-oft-ueberlegen.html.
7. Hedenstierna-Jonson, C. et al. A female Viking warrior confirmed by genomics. Am. J. Phys. Anthropol. 164, 853–860 (2017).
8. Geschlechterbilder in der Steinzeit - SWR2. https://www.swr.de/swr2/wissen/broadcastcontrib-swr-10974.html.
9. Leyk, D. et al. Hand-grip strength of young men, women and highly trained female athletes. Eur. J. Appl. Physiol. 99, 415–421 (2007).
10. Paradoxes Hormon - Testosteron macht aggressiv, aber auch großzügig (Archiv). https://www.deutschlandfunk.de/paradoxes-hormon-testosteron-macht-aggressiv-aber-auch.676.de.html?dram:article_id=370489.
11. Book, A. S., Starzyk, K. B. & Quinsey, V. L. The relationship between testosterone and aggression: A meta-analysis. Aggression and Violent Behavior vol. 6 579–599 (2001).
12. Wibral, M., Dohmen, T., Klingmüller, D., Weber, B. & Falk, A. Testosterone Administration Reduces Lying in Men. PLoS One 7, (2012).
13. Wissenschaft - Studie: Rote T-Shirts lassen Männer dominanter wirken - Wissen - SZ.de. https://www.sueddeutsche.de/wissen/wissenschaft-studie-rote-t-shirts-lassen-maenner-dominanter-wirken-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150512-99-01320.
14. Hyde, J. S. Gender similarities and differences. Annual Review of Psychology vol. 65 373–398 (2014).
15. Verkehrsunfälle in Deutschland - Statistisches Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/_inhalt.html;jsessionid=8C5A659DC94A1851A9905E090097AC05.internet712#sprg238548.
16. Simon, F. & Corbett, C. Road traffic offending, stress, age, and accident history among male and female drivers. Ergonomics 39, 757–780 (1996).
17. Wie sich Frau und Mann unterscheiden - [GEO]. https://www.geo.de/wissen/22301-rtkl-geschlechterforschung-wie-sich-frau-und-mann-unterscheiden-verblueffende.