Leni Kohlfürst | 04.11.21
Ich habe da diesen Bekannten, mit dem ich im ständigen Austausch stehe, auch wenn ich gar keine Lust darauf habe, weil er mich einfach nur nervt. Er hat problematische politische Meinungen, schaut ungern über seinen Tellerrand hinaus und ist hochgradig unreflektiert. Seht ihr ihn schon vor euch? Ein alter weißer cis-hetero Mann, der überaus entspannt zurückgelehnt auf seinem Stuhl sitzt als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Erst gestern, als ich einen Beitrag über nichtbinäre Menschen gelesen habe, musste er wieder seinen Senf dazugeben und Menschen ihre Gefühle absprechen. Das schlimmste daran ist, dass dieser Mann nicht existiert.
Sicher, es existieren mit Sicherheit (zu) viele solcher Menschen, aber eben dieser Bekannte – er ist nur in meinem Kopf. Und zwar nicht als purer Gegenredner, an dem ich meine Argumentation übe, sondern als Teil von mir, der an meinem inneren runden Tisch sitzt und versucht, so viel Raum einzunehmen wie möglich. Er sitzt da zum Glück nicht allein – in den letzten Jahren sind da so einige Menschen dazugekommen, aber dennoch: er ist da. Und natürlich ist er immer der erste, der spricht. Ich führe ein Gespräch übers Gendern und während mir alle anderen am inneren Tisch applaudieren und mich anfeuern, sitzt er selbstgefällig da und sagt: der hat doch recht, ist total umständlich und als ob wir nichts Wichtigeres zu tun haben. Dieser Mann ist mein konservatives Alter Ego, meine bayerische Sozialisation. Der Typ, der nicht versteht, warum ich links bin, wenn ich doch nie unter dem Kapitalismus gelitten habe. Der Typ, der denen zujubelt, die sich über Flüchtlingswellen aufregen. Der junge Menschen Schneeflöckchen nennt und cancel culture gefährlich findet.
Aber glaube ich, dass viele von uns solchen Menschen immer noch nicht den Stuhl unter dem Hintern wegziehen konnten? Auf jeden Fall. Das wichtigste ist für mich, dass ich ihn nicht sprechen lasse. Mein Tisch ist inzwischen voller Aktivist*innen, die Falafel nach ihm werfen und ihn eines Besseren belehren. Er ist vielleicht oft der erste der spricht, aber nie der letzte & darauf kommt es an.
Trotzdem schäme ich mich. Denn ich schaffe es nicht immer, als Reaktion auf seine Seitenhiebe nur die Augen zu verdrehen, sondern manchmal höre ich ihm zu. Manchmal lasse ich mir von ihm einreden, dass meine politischen Einstellungen eine kindliche Rebellion sind und ich, spätestens wenn ich die 30 geknackt habe, bequem wie er am Tisch sitzen und eine Wurstsemmel essen werden, weil ich bis dahin den Veganismus längst über Bord geworfen habe. Wenn ich Weltschmerz spüre, dann holt der Aktivismus mich raus, der Austausch mit Gleichgesinnten, weil mir das Mut gibt. Aber ich werde nicht sagen, dass es nicht verlockend ist, mir einfach ein bisschen weniger Gedanken zu machen und mich auf meinen Privilegien auszuruhen und nicht versuchen zu wollen, jede existierende Ungerechtigkeit aus dem Weg zu schaffen – und genau dazu möchte mich der alte Mann verleiten.
Der alte Mann ist nicht nur mein konservatives Alter Ego, er ist auch meine Selbstzweifel. Er sagt mir bei jeder Diskussion, dass ich mich bloß raushalten soll, weil ich gar nicht genug Ahnung habe. „Du hast nicht mal das Kommunistische Manifest oder was von Simone Beauvoir gelesen, also hör auf mit deinem hippen feministischen Linksgetue“, sagt er. Ich schätze, das ist diese weibliche Sozialisation, von der alle reden. Er lässt mich jung und unwissend fühlen. Und ja, ich bin vielleicht beides, aber das heißt nicht, dass ich den Mund halten sollte, wenn über Themen geredet wird, die mir am Herzen liegen.
Der alte Mann ist so sehr ein Teil von mir, dass ich höchst verwirrt bin, inwiefern ich ihn überhaupt zum Schweigen bringen sollte. Vor allem, wenn er online Unterstützung von irgendwelchen Trollen bekommt, die mir zum Beispiel erklären, dass die linke Bubble mit ihren Diskussionen über Neopronomen und Catcalling-Petitionen die Verbindung zur Gesellschaft verliert und ein genauso unreflektierter privilegierter Haufen wird, wie sie es den anderen immer vorwirft. Zudem habe ich Angst, was die Menschen, die so sind wie mein alter Mann, tun, wenn man ihnen nicht mehr zuhört.
Ich würde gerne meine Verwirrung lichten und Antworten auf meine Fragen finden, aber so weit bin ich noch nicht, und das ist – egal, was der alte Mann sagt – vollkommen in Ordnung. Bis dahin erinnere ich mich einfach, dass alles okay ist, wenn ich, bis der alte Mann seine Koffer endlich gepackt hat, einfach dafür sorge, dass seine Worte nicht meine Lippen verlassen. Denn ich weiß, dass ich auf die andere Stimme hören will. Die, die mir verrät, dass meine Diskussionspartner*innen oft auch nicht so viel Ahnung haben, wie ich denke, und die der Ansicht ist, dass Neopronomen, Petitionen dafür, dass Catcalling strafbar wird, Ausbrüche aus dem binären System und Gendern gute und wichtige Entwicklungen sind. Denn das ist meine Stimme! Niemand ist komplett frei von Rassismus, Sexismus, Misogynie oder Queerfeindlichkeit, denn wir so sind wir eben aufgewachsen und es bringt nichts, so zu tun, als wäre es anders. Aber wenn ihr euch an eurem inneren runden Tisch umschaut und die ein oder andere Person bittet, zu gehen, dann können wir das irgendwann überwinden.