1. Liebe Jo, du hast ja den Mental Load Test mitentwickelt - hast du dich schon lange mit Feminismus beschäftigt bzw. warum und wann wurde Mental Load zum Thema für dich?
Mit der Geburt meines ersten Kindes habe ich gemerkt, dass ich selber ein ganz schwieriges Verhältnis zu Care-Arbeit hatte. Ich habe herabgeblickt auf die Hausfrau und die Mutter, die zu Hause blieb, und ich habe mich in der Rolle sehr schlecht gefühlt, obwohl ich sehr schnell nach der Geburt wieder gearbeitet habe und mein Partner und ich eine gleichberechtigte Beziehung und Elternschaft begonnen hatten. So kam ich zu der feministischen Auseinandersetzung mit dem Thema Care-Arbeit und deren gesellschaftlicher Stellung, die von einer massiven Geringschätzung geprägt ist. Diese Geringschätzung hat auch mit der Unsichtbarkeit der Arbeit zu tun und am unsichtbarsten von dieser ganzen Arbeit ist die mentale Last durch die Familienorganisation, nach der Sie fragen. Es hat mich geärgert, dass selbst in meiner feministischen Müttergruppe viele Frauen Schwierigkeiten hatten, ihren Partnern zu vermitteln, was es bedeutet, diese Arbeit zu leisten. Mit dem Test wollte ich zunächst einmal aufzeigen, wie viele Kleinigkeiten das im Alltag sind und wieviel Raum diese einnehmen. Ich habe dann die Liste der Tätigkeiten meinem Partner gegeben, um sie gegenzulesen. Zwei Tage später hörte ich es plötzlich aus der Küche rumpeln, da war er dabei – ich denke zum ersten Mal in seinem Leben – den Kühlschrank auszuräumen und von innen auszuwischen. Das war etwas, das auf der Liste stand und bisher hatte offensichtlich immer ich das erledigt. In dem Moment wurde mir klar, dass allein die Lektüre dieser Liste bzw. des Tests etwas verändern und dazu beitragen kann, dass Care-Arbeit stärker ins Bewusstsein rückt. Der Test kann auch eine Chance sein, weil er aufzeigt, welche Dinge jemand konkret übernehmen und damit von der To-do-Liste der anderen Person streichen könnte. Gemeinsam mit der Initiative Equal Care Day habe ich den Mental Load Test weiterentwickelt, es gibt mittlerweile mehrere Fassungen davon, auch für den Arbeitsplatz.
2. Kann man sagen, dass Gleichberechtigung jenseits von Gender Pay Gap bei vielen erst mit dem ersten Kind merklich zum Schmerzpunkt wird?
Ja, das trifft auf viele Familien zu. Es gibt zwar auch einen Gender Care Gap bei kinderfreien Paaren (35%), aber der Grad der Ungleichheit nimmt immens zu, wenn ein Kind dazu kommt. Am höchsten ist der Gender Care Gap bei 34-jährigen mit mindestens einem Kind, da beträgt er 110 %.
3. Welche Arbeitsfelder müssten denn fairer aufgeteilt werden (Haushalt, Familienorganisation, Arbeit, Kinderbetreuung?)
Am besten wäre es, alle Bereiche fair aufzuteilen, das heißt, die Haushaltsaufgaben, die Kinderbetreuung wie auch die Erwerbsarbeit auf zwei Paar Schultern zu verteilen. Das ist aus vielen Gründen nicht immer möglich, aber es sollte mindestens normal werden, dass man von dem Erwerbsarbeitstag nach Hause kommt und erst dann Feierabend hat, wenn auch
die Care-Arbeit erledigt ist. Oder dass man sich eben gemeinsam dafür entscheidet, die Care-Arbeit liegen zu lassen, sofern möglich. Das gleiche gilt für die Wochenenden und Urlaubszeiten. Die Menge an Freizeit kann ein guter Gradmesser für die Gleichberechtigung in der Beziehung sein.
4. Und wie kann man die Aufgabenverteilung möglichst ohne zermürbende Streits auf Kosten der Beziehung fairer gestalten?
Dafür muss man zuerst einmal Zeit investieren und sich darüber austauschen, was einem eigentlich wichtig ist und an welchen Stellen Kompromisse gemacht werden können. Idealerweise spricht ein Paar über die Aufgabenteilung, bevor es zusammenzieht. Es kann sich im Vorfeld überlegen, welche Aufgaben voraussichtlich anfallen werden und wer welche Aufgaben übernimmt. Dabei ist wichtig, sich darüber zu einigen, was es bedeutet, eine Aufgabe zu erfüllen: Es gilt, einen Minimalstandard zu etablieren, mit dem beide einverstanden sind. Ein Beispiel: Wann ist das Badezimmer geputzt? Gehört das Entkalken der Wasserhähne dazu oder ist das eine Sonderaufgabe? Wie oft muss der Fliesenspiegel gewischt werden? Wird das Waschbecken ausgewischt oder darf es luftgetrocknet werden? Wenn die beiden Personen unterschiedliche Standards haben, benötigen sie einen Kompromiss. Möglich ist natürlich auch, Aufgaben nach Geschmack zu verteilen und Vorlieben zu berücksichtigen. Langfristig jedoch sollte es das Ziel sein, dass jede Person alle Aufgaben kompetent übernehmen kann. Das ist vor allem wichtig im Kontext mit Kindern. Denn nur dann, wenn beide Elternteile gleichermaßen gut – und das bedeutet nicht auf die gleiche Weise, sondern unterm Strich bei ähnlicher Qualität – für die Kinder sorgen können, nur dann ist es beiden Elternteilen möglich, mal über ein Wochenende wegzufahren oder nicht da zu sein, ohne dass am Ende mehr Arbeit auf sie zukommt als es ohne Abwesenheit der Fall gewesen wäre.
5. Wie spricht man Dinge an, die immer schlecht laufen, die bereits zum Reizthema geworden sind und bei denen man in der Kommunikation irgendwie feststeckt? Hast du hier einen persönlichen Rat, vielleicht an einem konkreten Beispiel?
Wer etwas verändern möchte und Schwierigkeiten hat, den Wunsch klar zu kommunizieren, kann auf das EAAF-Skript zurückgreifen. Dabei erinnert (E) man zuerst den Partner daran, um welche Sache es genau geht. Zum Beispiel: „Weißt du, dass du gestern eigentlich mit Geschirr spülen dran gewesen wärst und es nicht gemacht hast?“ Als nächstes erkennt man an (A), dass es sich bei dem Wunsch oder der Frage um eine Veränderung im Vergleich zur vorherigen Situation handelt. Beispiel: „Ich weiß, dass ich das früher immer einfach gemacht habe.“ Dann gilt es, die eigenen Gefühle dazu auszudrücken (A), zum Beispiel: „Aber ich fühle mich nicht mehr wohl und ich brauche abends mehr Erholungszeit.“ Als letztes formuliert man eine konkrete Frage (F) oder einen Wunsch dazu. Beispiel: „Ich wünsche mir daher, dass du künftig das Geschirr von alleine spülst und daran denkst, wenn du dran bist.“ Es dauert etwa drei Wochen, bis sich neue Gewohnheiten etabliert haben und es ist normal, dass man solche Infos manchmal wiederholen muss. Nicht immer ist die Aufmerksamkeit voll da und nicht immer wird man sofort ernst genommen in seinem Anliegen. Mit dem EAAF-Skript kann man sachlich und lösungsorientiert dranbleiben und auch mehrfach wiederholen, worum es geht.
6. Stichwort Care-Arbeit ist Frauen-Arbeit: Woher kommt diese Assoziation, dass Caring per se weiblich ist? Wie konnte es das Patriarchat
schaffen, dass es soweit kommt?
Diese Frage ist schwer kurz zu beantworten, da es sich um einen über viele Jahrhunderte hinweg geprägten Prozess mit verschiedensten Einflüssen handelt. Es beginnt im Grunde mit der Bibel, in der die Frau als dem Mann gegenüber minderwertig dargestellt wird. In diesen Herrschaftsstrukturen war es Frauen lange Zeit untersagt, sich zu bilden, zur Schule zu gehen oder überhaupt das Haus zu verlassen. Sich als besonders gute Hausfrau und Haushälterin auszuzeichnen und zu heiraten war entsprechend die einzige Chance, für einen gesellschaftlichen Aufstieg in der Klassengesellschaft. Diese Verhältnisse veränderten sich zugunsten größerer Selbstständigkeit von Frauen und wurden ein Stück weit abgelöst von einem Biologismus, der Frauen die fürsorgende Position in der Gesellschaft als natürlich und genetisch vorgegeben zuschrieb. Die Arbeit aus Liebe entspräche dem Wesen der Frau, und somit tue man jeder Frau einen Gefallen, wenn sie dieses verwirklichen könne. Eine Bezahlung dieser Aufgaben betrachtete man entsprechend als nicht erforderlich. Es greifen hier also verschiedene Narrative und Machtverhältnisse ineinander. Auch Vorstellungen über das Ideal von Mutterschaft tragen heute noch einen Teil dazu bei.
7. Was müsste deiner Meinung nach in einer Fünf-Punkte-Reihenfolge (von am dringlichsten zu am weniger dringlichen) politisch auf den Weg gebracht werden, um langfristig mehr Gleichberechtigung in den Alltag der Frauen zu bringen?
Ich möchte mich auf einen Punkt beschränken, und zwar die Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Die Idee von einer 40-Stunden-Woche als Vollzeit berücksichtigt keinerlei Care-Arbeit und stammt aus einer Zeit, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen kaum zur Debatte stand. Heute sind wir mit dem Anspruch konfrontiert, dass jede*r 40 Stunden lohnarbeiten soll. Wenn das jedoch der Fall wäre, könnte ein großer Teil der Care-Arbeit nicht mehr geschafft werden. Unsere Care-Infrastruktur ist gar nicht darauf ausgelegt. Im Gegenteil gibt es eine Care-Krise, zu der auch ein enormer Fachkräftemangel gehört.
Wenn wir Care-Arbeit fairer verteilen wollen, müssen Männer mehr der nicht reduzierbaren Care-Arbeit übernehmen, und dafür brauchen auch sie zeitliche, kognitive und körperliche Ressourcen. Diese zu besitzen ist mit unserer heutigen Vorstellung von Vollzeit nicht vereinbar. Die Folgen sind Teilzeit bei Frauen mit entsprechenden Karriere- und Lohneinbußen und/oder Burn-Out sowie permanente Überlastung.
8. Wofür müssen Frauen und auch Männer auf der Mikro-Ebene kämpfen, um über kleine Veränderungen den großen gesellschaftlichen Wandel einzuleiten?
Der wichtigste Teil ist der Bewusstseinswandel und da kämpft sozusagen jede und jeder auch gegen sich selbst. Internalisierte Glaubenssätze und Rollenbilder sind tief verwurzelt und begleiten uns alle jeden Tag. Ihnen auf die Spur zu kommen, sie zu befragen und durch neue, passendere Glaubenssätze zu ersetzen ist etwas, das man für sich selbst erarbeiten kann und muss. Wir müssen uns freimachen von den Vorstellungen darüber, welche Aufgaben eine Frau und welche Aufgaben ein Mann hat, um im Anschluss für unsere Rechte einstehen zu können – sowohl als Frau, wenn es um Beteiligung am Arbeitsmarkt geht, um das Recht auf Erholung und Freizeit, wie auch als Mann, wenn es um das Recht geht, Fürsorgeverantwortung zu übernehmen, Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen und am Arbeitsplatz Stunden zu reduzieren.
9. Was würdest du Männern raten, die sich für feministisch halten, aber dennoch im Alltag mit ihren Partnerinnen zusammenclashen in Haushaltsfragen und Kinderorganisationsfragen?
Der Mental Load-Test ist ein guter Startpunkt, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Der Test versucht, ein objektives Bild davon zu zeichnen, wer welche Aufgaben übernimmt und welchen zeitlichen Aufwand diese Aufgaben bedeuten.
Das Ausmaß von und der Aufwand für Care-Arbeit wird oft massiv unterschätzt und das auch häufig von Entscheidungsträger*innen in der Politik, die aufgrund ihres hohen Erwerbsarbeitsaufkommens von der Sorgearbeit entfremdet sind. Mithilfe des Mental-Load-Tests können solche Verzerrungen in der Wahrnehmung aufgedeckt werden. Es geht dabei nicht ums Aufrechnen gegeneinander, sondern es soll Verständnis hergestellt werden. Es ist eben nicht das bisschen Haushalt, sondern viel zeit- und kraftraubende Arbeit, die nicht optional ist.
Als feministischer Partner sollte man sich unbedingt darauf einlassen, in eine detaillierte Auseinandersetzung über Care-Arbeit zu gehen.
Denn feministisch zu handeln, bedeutet in diesem Fall auch, Care-Arbeit nicht abzuwerten und die Bedürfnisse der Partnerperson nicht abzuwerten, sondern echte Bereitschaft zu zeigen, einen Teil der Nachteile, die mit der Übernahme von Care-Arbeit leider einhergehen, selbst zu tragen.
10. Zu guter Letzt: Gibt es eigentlich auch einen Test für Männer, bei dem sie herausfinden können, wie feministisch ihr Denken und Handeln wirklich ist?
Der Mental Load-Test ist auch geeignet, eine Diskrepanz zwischen Denken und Handeln aufzuzeigen. Männer überschätzen ihren Anteil an der Sorgearbeit meistens, während Frauen ihren Anteil unterschätzen. Eine andere Möglichkeit wäre, wie gesagt, mal auf die Wochenenden und auf die Freizeit zu schauen. Haben beide Personen in der Beziehung gleich viel freie Zeit? Können sie für zwei Tage das Haus verlassen, ohne dass am Ende ein Riesenberg Arbeit dazu kommt? Können sie alleine duschen gehen, haben sie Zeit für Sport? Freizeit ist das Negativ von Erwerbs- und Care-Arbeit. In einer gleichberechtigten Beziehung sollten beide gleich viel Freizeit besitzen, denn in einer gleichberechtigten Partnerschaft auf Augenhöhe besitzt die Zeit beider Personen den gleichen Wert – unabhängig davon, wieviel an anderer Stelle ein*e Arbeitgeber*in für diese Zeit bezahlt.
Interview: Petra Bradatsch
Zur Person
Jo Lücke ist freiberufliche Trainerin und Speakerin für Equal Care und Mental Load. Darüber hinaus entwickelt sie, auch als Leitungsmitglied der Initiative Equal Care Day, Konzepte zur politischen Bildung von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. 2019 erschien von ihr der erste Mental-Load-Selbsttest, der in Zusammenarbeit mit der Initiative Equal Care Day herausgegeben wurde. Jo studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und der Johns Hopkins University, Baltimore. Bevor sie 2019 als Speakerin begann, war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Theaterregisseurin, Texterin und Wissenschaftslektorin tätig. Mit der Geburt ihres ersten Kindes 2017 erfuhr Jo Lücke am eigenen Leib, dass das gleichberechtigte Elternsein durchaus herausfordernd ist und gründete ihre Webseite www.feministmotherhood.de, um das Thema zu reflektieren und in die Welt zu tragen. Ihr Engagement speist sich aus der Erkenntnis, dass Care-Arbeit die Basis allen Wirtschaftens ist. Die gesellschaftliche Verortung elterlicher Verantwortung bei der vermeintlich aus Liebe arbeitenden Mutter bezeichnet sie als den wohl größten Marketing-Betrug der Geschichte. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.