Ein verregneter Septembertag in München, wir treffen Laura Lynn Meyer: Sie ist 22 Jahre alt, kommt aus Hamburg, studiert Lehramt und schreibt bereits, seit sie einen Stift halten kann: Prosa, Poesie, Poetry Slam. Dieses Jahr ist ihr erstes eigenes Buch erschienen, schleichende Prozesse, ein Sammelband über Wachstumsschmerzen.
Hallo Laura! Du veröffentlichst deine Texte auf Instagram, trägst sie auf Bühnen vor und hast jetzt ein Buch herausgebracht. Welches Potential siehst du in den verschiedenen Medien?
Ich sage oft: Worte sind die Steine, die Stimme ist die Schleuder. Viele Leute, die nicht viel lesen, gehen trotzdem zu Poetry Slams, weil ihre Lieblingsbar das veranstaltet. Bei einem Poetry Slam gibt es die Chance, dass einem ganz viele unterschiedliche Menschen auf einen Schlag sechs Minuten lang - je nach Format - zuhören MÜSSEN, können, dürfen, ohne Ablenkung. Super wertvoll.
Bei Instagram ist es das Sofortige, das Schnelle, mit dem man trotzdem viele Menschen erreicht. Es geht da für mich auch um Selbstwirksamkeit: Ich habe das Schreiben lange nicht Teil meiner Identität werden lassen. Der Account war dann der Schritt, mich dafür nicht mehr zu schämen, stolz zu sein auf das, was ich mache.
Das Buchformat bedeutet für mich theoretisch irgendwann mal den Einstieg in das Literaturuniversum, das mir immer so utopisch und weit weg erscheint. Dass mein Buch eine Zeit lang mal im Thalia stand bei mir in Hamburg, das fühlt sich noch am wahrhaftigsten an.
Du schreibst schon dein Leben lang. Wann hast du dich dazu entschieden, deine Texte öffentlich zu teilen und wieso?
2019 war ich auf einem Open Air Poetry Slam bei uns in Bergedorf, einem Teil von Hamburg. Ich wurde im Anschluss von einem der Auftretenden angesprochen, ob ich schreibe. Er meinte, ich könne mal vorbeikommen und dann bin ich dort aufgetreten, mit 17, also vor knapp 5 Jahren.
Poetry Slam ist ja in manchen Kreisen recht verpönt und wird viel parodiert. Was ist dein Take dazu?
Ich finde schade, dass eine Ausdrucksform angegriffen wird, die ich mir lange selbst nicht zugetraut habe. Gerade bei kleinen Bühnen sind oft junge Menschen, FLINTAs, Queers, die seltener Raum bekommen. Die hingehen und sich trauen – das sollte nicht verpönt sein, sondern viel mehr zelebriert werden.
Dein Instagramaccount heißt
@prostderpoesie. Woher kommt der Name?
Erstens: Ich liebe Alliterationen. Zweitens war Poesie lange etwas, womit ich mich schwer identifizieren konnte, lange gebraucht habe, es zu dechiffrieren, beispielsweise Rilke oder Neruda – was ja auch eine Kunstform und das Schöne daran ist. Aber sie wirkte so verstaubt, so alt. Mit dem Prostgedanken, quasi “Cheers to that”, wollte ich die Poesie wieder aufleben lassen.
Gibt es in der Aktualität Lyriker*innen die du gut findest?
Ich mag Instalyrik, da folge ich vielen Accounts. Z.B. Hannes Franzke und Paulina Behrendt, die auch guten Poetry Slam macht. Sie schreibt sehr schöne, grandiose Texte. Und ganz basic: Rupi Kaur. Auch wenn jeder
Milk and Honey gelesen hat. Es hat eine ganze Poesie – und Ausdrucksform nochmal revolutioniert.
Also ist sie gar nicht tot, die Lyrik?
Nein, gar nicht. Gerade in Musik findet Lyrik statt. Aktuelle Musiktexte, z.B. von Paula Hartmann, könnte man auch in der Schule behandeln. Gerade weil Betonung und Rhythmus sehr wichtig sind in Musik. Auch Raptexte. Besser kommt man vermutlich nicht an junge Menschen ran, als wenn es auch privat einen Bezug dazu gibt bzw. sie die Musik selbst gern hören. Wichtig ist bei der Auseinandersetzung mit Lyrik immer, die Dinge einzuordnen, schwierige Frauenbilder zum Beispiel.
schleichende prozesse ist dein erstes Buch, welches dieses Jahr erschienen ist und Prosa sowie Poesie beinhaltet. Um welche Themen geht es darin? Wie verknüpfst du diese unter dem Begriff der schleichenden prozesse?
Meine großen drei Pfeiler sind grundsätzlich Feminismus, Leistungsdruck und emotionale Gesundheit. Erwachen und Erwachsenwerden als FLINTA-Person. Sophie Passmann hat in ihrem Buch über Frank Ocean geschrieben, dass Therapie ist, wie Wachstumsschmerzen – etwas, das ich bis dato immer als etwas Physisches und nicht mental Ablaufendes empfunden habe. Ich finde diese Metapher bezeichnend dafür, wie das Erwachsenwerden ist: verbunden mit Wachstumsschmerzen. Gerade als FLINTA-Person nochmal eine ganz andere Hürde, daneben feministische Themen und familiäre Sachen. Ich schreibe viel darüber, wie schwierig meine Beziehung zu meinem Vater war, als Kind, so wie heute, was oft als Daddy Issues vermarktet, sexualisiert und mit erotischem Potential aufgeladen wird. In meinen Texten geht es vielmehr um das Stummwerden dazu, das Kleinerwerden.
Die schleichenden prozesse hängen auch mit Wachstumsschmerzen zusammen?
Ich bin 22, also noch nicht so alt, aber die Jugend ist meiner Meinung nach auf jeden Fall abgeschlossen – für mich hat meine Therapie eine Zäsur bedeutet: zwischen Kind sein, jugendlich sein und erwachsen werden. Alles davor war schleichend und langsam. Heranwachsen. Sich langsam lösen aus den Ketten, die man auferlegt bekommen hat, in Kindheitstagen, von väterlicher Seite. Dann dieser private wie gesellschaftliche Leistungsdruck, der immer noch da ist, von dem man sich schleichend löst. Wo man erst rückblickend beim Schreiben merkt, was da eigentlich die ganze Zeit abgelaufen ist.
Am Anfang geht es auch um Liebeskummer. Es wirkt im Nachhinein immer so: Boom, so war das, aber in Wahrheit war es ein langsamer Prozess. Teilweise so schleichend, dass man jahrelang dachte, es passiert gar nichts, dabei ist total viel passiert.
Welches war für dich dein schleichendster Prozess?
Am schleichendsten ist wohl immer das, was noch nicht abgeschlossen ist. Bei mir ist das der Leistungsdruck, ein Selbstbild, das ich habe, das erfüllt werden muss und von außen an mich herangetragen wurde. Ich messe mich viel in Zahlen und mir fällt es schwer, “Nein” zu sagen, obwohl das okay ist. Ich habe generell ein Thema mit Superlativen, habe lange mein
Sein über mein
Können definiert. Eine Angst vor Mittelmäßigkeit, darum schreiben ja auch viele Menschen, damit sie gesehen werden und etwas hinterlassen können. Es geht um Relevanz, sich zeigen. Das versuche ich, mit Hilfe von Therapie abzulegen – und ist wohl der längste Prozess, wo ich nicht weiß, ob der je abgeschlossen sein wird, weil es auch gesellschaftlich so vorgelebt wird.
Foto: Niklas Beeken
Sind die Texte im Buch ausschließlich autobiographisch oder schreibst du über Situationen und Prozesse, wie sie viele FLINTA-Personen erleben?
Das ist immer witzig. Ein Kumpel von mir ist nach einem Text mal auf mich zugekommen und meinte: “Laura, das sind doch wir, oder?” Ich habe geantwortet: “Ja – und nein”. Natürlich ist es autobiographisch und wer mich kennt, erkennt sich oder mich vielleicht wieder. Aber ich schreibe Texte oft aus einem Gefühl heraus und dann ist der Anfang autobiographisch, danach verselbstständigt es sich total und fiktionalisiert sich. Das Lyrische Ich und ich sind uns sehr ähnlich, wie Schwestern vielleicht, aber wir sind keine Zwillinge.
Inwiefern kann man das Lyrische Ich denn von der eigenen Person trennen?
Natürlich ist das Lyrische Ich nicht dasselbe wie der oder die Autor*in. Manche schreiben überhaupt keine autobiographischen Texte. Wenn Benedict Wells sagt, er lebt mit seinen Romanfiguren gedanklich in einer WG und die sagen Sachen, die ihm selbst nicht eingefallen wären, dann ist das ja ein ganz anderer Prozess als in einem Poetry Slam, wo man v.a. über persönliche Erfahrungen spricht, autobiographische Texte schreibt wie ich und das vielleicht auch gar nicht trennen will.
Um aber auf die Debatte dazu zu kommen: Ich finde es Quatsch, zu sagen, “Das ist einfach Kunst”, denn du hast den Text aus einem Gefühl heraus geschrieben, mit einer Intention und stellst dich damit ohne Scham auf eine Bühne, also musst du ja damit übereinstimmen. Ich habe auch einen Text, wo ich erzähle, was ich alles an Alltagsmikrosexismus erlebe. Diesen dabei aber kritisch einzuordnen ist etwas anderes, als z.B. eine Vergewaltigungsfantasie auf der Bühne zum Besten zu geben und dann am Anfang zu sagen “Triggerwarnung, hier geht es um sexualisierte Gewalt” – Wo ist da der Mehrwert? Man hat hier ja auch immer eine Reichweitenverantwortung.
Wo wir schon bei Mehrwert und Trennung von Kunst und Künstler*in sind – Wie handhabst du es, wenn nicht das Werk problematisch ist, sondern die Person dahinter?
Ich versuche primär, diese nicht finanziell zu unterstützen. Außerdem probiere ich, neben Klassikern unbekannte Literatur zu entdecken und zu lesen, die kein Klassiker ist. Nur, weil etwas nicht im Kanon ist, heißt es nicht, dass nicht auch andere Leute dieselben Gedanken hatten, teilweise sogar früher. Ich lese z.B. gerade Annie Ernaux, Tove Ditlevsen. Im Kontrast, dass ich mir nicht den 10. Hermann Hesse reinpfeffern muss. Es ist nett, aber wenn man nur Männer liest – da hast du halt die Hälfte der Literatur verpasst.
Foto: Niklas Beeken
Ein Grund für mangelnde Empathie mit FLINTA-Personen könnte sein, dass gerade Männer nicht lernen, sich mit weiblichen oder queeren Perspektiven auseinanderzusetzen und zu identifizieren. Siehst du da einen Zusammenhang?
Es ist erwiesen, dass im Deutschunterricht mehr Männer gelesen werden, um auch Jungs abzuholen, die sonst dem Sprachunterricht nicht so zugeneigt sind, während im Physikunterricht, wo tendenziell Mädels weniger Bock drauf haben, nichts passiert. Das heißt, wir versuchen, mehr Männer abzuholen, machen aber nichts für die Mädchen und erhalten das binäre System aufrecht? Einer der Gründe, warum ich Lehrerin werde. Ich vermittle und erkläre gerne – trotzdem ist es super herausfordernd. Du musst nahbar sein, aber eine Distanz wahren. Alles vom Lehrplan schaffen, aber auch nicht überfordern. Du musst auf 30 Kinder gleichzeitig eingehen, aber auch die ganze Klasse halten. Und das alles in Live-Zeit. Ein super krasser Job, den ich mir manchmal gar nicht vorstellen kann. Das noch in der Pubertät und mit so vielen unterschiedlichen Lebensrealitäten. Du kannst jemanden mit ADHS haben, mit Leserechtschreibschwäche etc. Du bist als Lehrkraft dafür nicht gut genug ausgebildet, man kann Menschen lediglich dafür sensibilisieren. Mein Ansatz hier ist Menschlichkeit und Aufmerksamkeit.
Was würdest du mit deinen Texten gerne erreichen? Was wünscht du dir, dass Leser*innen aus diesen mitnehmen?
Das schönste an Texten ist, wenn Leute danach auf mich zukommen und sagen, das hat mich berührt und das habe ich gefühlt. Andererseits traurig, weil es heißt, dass wir einen ähnlichen Schmerz erlebt haben. Ich spreche da gern von Verschwesterung, aber unabhängig von irgendwelchen Geschlechterkategorien.
Mit den feministischen Themen möchte ich natürlich vor allem Aufmerksamkeit für diese generieren. Bei den Prosatexten, dass man eine Figur und ein Setting interessant findet und eintaucht.
Was inspiriert dich?
Freund*innen, Literatur, Musik. Orte: Ich gehe gern durch Straßen, gerade in neuen Städten. Museen. Selbst lesen, Gespräche. Auch hier bin ich entlang gegangen - ich kenne München ja nicht so gut - habe meine Playlist gehört, da sind auch ein paar Paula Hartmann Songs drin,die kann ich auch gerne mit euch teilen.
Hast du schon neue Projekte für die nächste Zeit oder auch längerfristig in Planung?
Ich plane mit meinem feministischen Buchclub was über Freund*innenschaften, dazu kann ich aber noch nicht so viel sagen, weil wir ganz am Anfang stehen. Ich schreibe an meinem Roman, der geht in Richtung Gegenwartsliteratur, Feminismus, Zwischenmenschliches. Geplatzte Träume. Und irgendwann vielleicht nochmal einen Gedichtband.
Also auch alles ein schleichender Prozess. Danke Laura für das Gespräch!