BUUH! Redaktion | 10.07.2023
Hallo Sonja! Du hast Jazz-Gesang, Musiklehramt und Dirigieren studiert, spielst verschiedene Instrumente, auf deiner Website präsentierst du dich als Dirigentin, Chorleiterin und Sängerin – auf was davon könntest du am wenigsten verzichten? Gibt es eine Sache, wo du dich am meisten zuhause fühlst?
Ich fühle mich genau in dieser Vielfalt am wohlsten. Das bin einfach ich. Ich habe lange gedacht, dass ich mich auf eine Sache fokussieren muss, da „man ja nicht alles gleichzeitig machen kann.” Und tatsächlich habe ich für mich festgestellt, dass ein zeitweiser Fokus auf ein bestimmtes Gebiet dazu führt, dass ich mich mehr vertiefen und spezialisieren kann. Und dass es wesentlich zu meiner inneren Ruhe beiträgt, nicht alles gleichzeitig tun und schaffen zu müssen. Momentan fühle ich mich eher beim Dirigieren zuhause. Aber das Gefühl wechselt täglich bis stündlich. Auf eines der Gebiete für immer zu verzichten, kann ich mir nicht vorstellen, da ich dann nicht mehr ich wäre. Aber den Fokus zu verschieben finde ich herrlich, da mir die verschiedenen Dinge dann noch mehr Spaß machen.
Fotos: Johannes Dubbrick von Munich.pix.
Du bist Gründerin des “New World Orchestra”, mit dem du im April in Zusammenarbeit mit Harald Lesch ein wunderschönes Konzert im Münchner Volkstheater gegeben hast. Wie kam es zu der Idee, ein nachhaltiges Orchester zu gründen und was bedeutet eine “Neue Welt” für Dich?
Die Idee kam mir auf einer Ägyptenreise: Ich war so schockiert über den Dreck und den Müll, den man überall dort sieht, sowie die Gleichgültigkeit der Menschen über den Zustand ihrer Umwelt. Dort ist mir erst bewusst geworden, dass wir uns in Europa aber eigentlich genauso verhalten. Wir haben auch eine gewisse Gleichgültigkeit für den Zustand unserer Umwelt entwickelt. Bei uns liegt das aber im Gegensatz zu Ägypten an dem Wohlstand, den wir genießen. Der Wohlstand bewirkte sogar noch, dass wir viele Missstände einfach nicht so greifbar sehen können wie in Ägypten. Und da kam mir die Idee, ein Orchester zu gründen, mit dem ich aufmerksam machen und Bewusstsein schaffen möchte. „Neue Welt“ bedeutet für mich: Die Welt, wie sie sein könnte, wenn wir sie dazu machen. Eine Welt, in der Frieden herrscht, in der bewusst mit Ressourcen umgegangen wird, in der wir ganz natürlich auf unsere Umwelt und unsere Mitmenschen achten...Kurz: Die Welt, in der ich leben möchte.
Eure erste Konzertreihe “SommernachtsBaum” dreht sich um den Schutz von Wäldern. Hat klassische Musik das Potenzial, Menschen für Nachhaltigkeit zu begeistern?
Ja! Unbedingt. Klassische Musik eröffnet Gefühlswelten, die absolut zeitlos sind. Und wenn es etwas gibt, das wirklich Potential hat, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, dann sind es Gefühle und allen voran die Begeisterung.
Warum braucht die Musikwelt ein nachhaltiges Orchester?
Ein Grund ist, dass die klassische Musikwelt seit Jahrzehnten einen eklatanten Publikumsrückgang verzeichnet, der auf Dauer bewirkt, dass diese Branche in dieser Form bald nicht mehr existieren wird. Das New World Orchestra möchte nicht nur Menschen, die gerne klassische Musik hören, für Nachhaltigkeit, sondern eben vor allem Menschen, die sich für Nachhaltigkeit interessieren, für klassische Musik begeistern. Das Spektrum der Hörer*innenschaft durch innovative Konzepte erweitern und diversifizieren. Klassische Musik bedeutet eben nicht, dass ich eine Abhandlung gelesen haben muss, bevor ich eine Vorstellung von Wagners Tristan und Isolde sehen „darf“ und Nachhaltigkeit bedeutet nicht, dass man einen Jutebeutel als Handtasche benutzen muss.
Ein weiterer Grund ist, dass in der Musikwelt noch nicht angekommen ist, dass sie auch ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten kann und muss. Nachhaltigkeit ist nichts, was jemand anderes für uns tun kann. Natürlich gibt es auch hier Veränderungen, die durch politische Entscheidungen herbeigeführt werden müssen, aber der Prozess beginnt bei jedem/jeder einzelnen von uns. Zudem finden sich gerade in der Musikwelt veraltete und verkrustete Strukturen, die die Entfaltung des künstlerischen Potenzials aller Beteiligten hemmen. Wir möchten darauf aufmerksam machen und mit den Veranstalter*innen ins Gespräch kommen. Mit unserem Absatz. Green Rider, den wir eigens mit dem Projektbüro What if entwickelt haben, zeigen wir auf, was konkret getan werden kann.
In eurem “Code of Conduct” schreibt ihr, die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) zum künstlerischen Gegenstand machen zu wollen. Wie sieht das in eurer Arbeit konkret aus?
Wir überlegen uns innovative Konzertprogramme, deren Kern eines der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung ist. Bei unserem ersten Projekt SommernachtsBaum geht es um das Thema Wald, das gleich mehrere Nachhaltigkeitsziele vereint. Dabei geht es uns darum, ein künstlerisches Erlebnis zu kreieren, das auch als solches für sich stehen kann. Das heißt, es geht in SommernachtsBaum nicht um den Waldschutz und tote Bäume, sondern um die Shakespeare Geschichte und deren Schauplatz, den Lebensraum Wald. Wir zeigen, dass der Wald ein zauberhafter und schützenswerter Ort ist. In Shakespeares Ein Sommernachtstraum geht es um Irrungen und Wirrungen der Liebe. Die Szenerie spielt durchwegs im Wald, sodass der Wald zum festen Hauptprotagonisten der Geschichte wird. Neben Ausschnitten aus Felix Mendelssohns Musik zu Ein Sommernachtstraum haben wir Waldruhe und Faust 2 von Fanny Hensel sowie zwei Neukompositionen von Lukas Mayr und Theresa Zaremba eingeflochten.
Zudem gibt es bei unseren Konzerten keine herkömmliche Konzerteinführung, sondern eine Themeneinführung, bei der man nochmal interessante Zahlen und Fakten zum jeweiligen Thema erfährt. Bei unserem ersten Konzert im Münchner Volkstheater hat das Prof. Dr. Harald Lesch übernommen und uns auf humorvolle Weise Besonderheiten des Ökosystems Wald aufgezeigt.
Nachhaltigkeit spielt in der Musikbranche häufig noch keine große Rolle. An welchen Stellen siehst du Potenzial für Verbesserung? Was bedeutet Nachhaltigkeit konkret und auf welchen Ebenen kann sie umgesetzt werden?
Nachhaltigkeit in der Musikbranche gliedert sich in zwei große Themenbereiche: Ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Ökologische Nachhaltigkeit meint den bewussten Umgang mit Strom, Heizung, Wasser, Mülltrennung, Müllvermeidung, Papierverbrauch, Druck von Programmen oder Noten, Werbung, Tickets, Bühnenbilder, Requisiten, Kostüme, Schminke, Pausenbewirtung, Kantine etc. Soziale Nachhaltigkeit bedeutet Gleichstellung, Diversität, Inklusion, faire Bezahlung, Kinderbetreuung, Gesundheit, Mobilität, Kommunikation etc. Wie in den meisten Unternehmen besteht auch in der Musikbranche bei vielen dieser Themen noch ein großer Handlungsbedarf. Das Problem ist nur, dass entweder das Bewusstsein für die Dringlichkeit der Themen fehlt oder weder finanzielle noch zeitliche Mittel verfügbar sind, um die nötigen Veränderungen zu planen und umzusetzen.
Kritik an der Musikbranche umfasst – auf die verschiedensten Genres bezogen – auch immer wieder den Vorwurf mangelnder Chancengleichheit. Würdest du sagen, dass es dir als Frau schwerer gemacht wurde, in der Welt des Dirigierens Fuß zu fassen?
Ich würde sagen, dass es mir als Frau nicht bewusst und aktiv schwerer gemacht wurde, aber dass es als Frau schwerer ist. Damit meine ich, dass ich nicht das Gefühl habe, dass sich irgendwer mal bewusst dachte: „Die Lachenmayr, die ist eine Frau, der mache ich es jetzt schwerer.“ Das gibt es sicherlich in unserer Branche, aber ich habe dergleichen zum Glück nicht erlebt. Aber ich erlebe, dass es Strukturen an Hochschulen sowie gesellschaftliche Strukturen gibt, die es Frauen in diesem Fachgebiet schwerer machen. Das geht schon damit los, dass es schwerer ist, sich selbst in einem bestimmten Beruf vorzustellen, wenn man dort nur Männer sieht. Ich habe erst im Alter von 25 Jahren zum ersten Mal (!!!) eine Frau am Pult eines namhaften Orchesters live gesehen. Oder meines Wissens gibt es in ganz Deutschland noch immer keine Frau, die eine Professur für Orchesterleitung innehat. In keiner meiner Prüfungen, die mit Orchesterleitung zu tun hatten, saß jemals eine Frau in der Jury. Und das, obwohl es wissenschaftlich erwiesen ist, dass man immer etwas von sich selbst in seinem Gegenüber sucht. Das bedeutet, dass Mann immer anders auf Frau und Frau immer anders auf Mann schauen wird – vor allem in einem Fach, bei dem es um eine körperliche Bewegung geht. Auch die Tatsache, dass es aktuell 130 Berufsorchester in Deutschland gibt und davon nur drei von Chefdirigentinnen geleitet werden, zeigt, dass der Weg für Frauen schwieriger ist.
Dieser Ist-Zustand hat viele verschiedene Gründe und ich würde ihn auch nicht per se als katastrophal bezeichnen. Es ist einfach der Ist-Zustand. Katastrophal ist aber, dass zu viele Menschen trotz dieses Ist-Zustandes zu dem Schluss kommen, dass wir in Sachen Gleichstellung keinen Handlungsbedarf haben, da es „uns ja eh viel besser geht als den Frauen in anderen Ländern“.
Haben Fragen rund um Feminismus und Intersektionalität überhaupt schon ein Standing in der klassischen Musikwelt?
Seit der Me-Too-Bewegung hat sich hier einiges getan. Es gibt viele Initiativen, Veränderung anzustoßen und insgesamt ein wesentlich größeres Bewusstsein für ein respektvolles Miteinander. Insofern würde ich sagen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wie versucht ihr beim “New World Orchestra”, Gleichberechtigung zu leben und zu fördern?
Wir versuchen, sehr offen miteinander zu sprechen und allen Themen, Sorgen und Wünschen Raum zu geben. Zudem wurden alle Künstler*innen beim ersten Konzertprojekt des Orchesters – inklusive mir – nach dem gleichen Tarif vergütet.
Welche Projekte stehen in der nahen Zukunft an, mit dem Orchester, aber auch für dich persönlich, als Musikerin allgemein?
Aktuell arbeiten wir an einem Trailer zu SommernachtsBaum und freuen uns dann im nächsten Jahr auf viele weitere Konzerte im deutschsprachigen Raum. Sobald wir konkrete Termine haben, melden wir uns bei euch. Und bei mir persönlich: Am Münchner Volkstheater bin ich momentan musikalische Leitung zweier Produktionen: Alles ist aus – Aber wir haben ja uns
und Gymnasium. Wer Lust auf einen unterhaltsamen, farbenfrohen aber geistreichen Abend hat, ist herzlich eingeladen, vorbei zu kommen.
Und zu guter Letzt: Gibt es einen Meilenstein deiner Arbeit der letzten Jahre, auf den Du besonders stolz bist?
Ich bin tatsächlich sehr stolz auf das erste Konzert des dNew World Orchestra,
das wir jetzt im April zusammen mit Prof. Harald Lesch vor dem ausverkauften Münchner Volkstheater hatten. Das Projekt hat vor ca. sechs Jahren in einem Urlaub in meinem Kopf begonnen und jetzt ist es Wirklichkeit geworden. Das lässt mich Bauklötze staunen...:-)