Kerstin | 20.07.22
Die Serie “Inventing Anna” war im März auf Platz eins der Netflix-Charts. Die Berichterstattung im New York Magazine über die wahre Geschichte von Anna Sorokin, die jahrelang erfolgreich vorgab, eine deutsche Millionenerbin zu sein, machte sie weltbekannt. Aber was fasziniert uns so an diesem Fall? Geht die unglaubliche Geschichte von Anna vielleicht uns alle etwas an? Aber Achtung: Spoilers ahead!
Die Welt ist voller globaler Ungerechtigkeit, Armut und Kriege. Was interessiert uns dann der Untergang einer vermeintlichen Multimillionärin? Jahrelang hat Anna Sorokin das geschafft, was unmöglich scheint: einen unbemerkten Klassenaufstieg unter dem Alias Anna Delvey. Ja, ich rede von “Klasse”, denn wir leben immer noch in einer Welt, wo unsere Chancen im Leben maßgeblich durch die Verteilung von Vermögen bestimmt sind. Denn mit der Herkunftsfamilie gehen immer noch Bildung, Geld, Beziehungen und vieles mehr einher.
Anna konnte das aufgebaute Bild so lange aufrechterhalten, indem sie ihr eigenes Verhalten bewusst an die “High Society” anpasste. Sie kannte die aktuellen Trends auf dem Kunstmarkt, trug die teuerste Kleidung, legte die “richtige Attitude” an den Tag. Anna Delvey shoppte beinahe täglich im Wert von tausenden von Dollars, bestellte die exquisitesten Weine, und gab Hundert-Dollar-Scheine als Trinkgeld. All ihre Konsumentscheidungen schrien: “Ich habe so viel Geld, dass es mir egal ist. Ich habe so viel Geld, dass ich nicht mal nett zu euch sein oder euch erzählen muss, wo genau mein Geld herkommt.”
Das selbstverständliche Auftreten hielt ihre Glaubwürdigkeit so lange aufrecht. Zu dem, was man auf Social Media als “resting-bitch-face” bezeichnet, passte ihre herablassende Art perfekt. Auch noch aus dem Gefängnis heraus gab sie allen das Gefühl, dass sie glücklich sein sollten, für sie zu arbeiten. Als die Journalistin Vivian Kent in der Netflix-Adaption Anna im Gefängnis besucht, antwortet die Betrügerin nicht sofort auf ihre Interviewfragen. Obwohl mit dem Artikel Annas Seite beleuchtet werden soll, inszeniert sie sich nicht als dankbar oder bedürftig. Stattdessen stellt sie der Journalistin eine übergriffige Gegenfrage: “Was trägst du da bitte? Du siehst arm aus!”
Nach dem Motto “Ausnahmen bestätigen die Regel” wurden auch Annas Verhaltensweisen, die eigentlich nicht auf eine “gute Herkunft” schließen ließen, anerkannt – wie zum Beispiel nicht “Bitte” und “Danke” zu sagen. Ihr deutscher Pass ließ das wie das Verhalten einer Person aussehen, die mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen ist und verlieh ihr zusätzlich Glaubwürdigkeit. Wahrscheinlich wäre ihr Schwindel schon wesentlich früher aufgeflogen, wenn Anna Delvey keine weißen Privilegien gehabt hätte.
Das Verhalten, um die eigene Klassenidentität zu konstruieren, bezeichnet der Soziologie Pierre Bourdieu als Habitus. Anna beherrschte das Spiel perfekt: In der Serie verändert sie auch ganz gezielt ihr Aussehen von Kleidung, über Brille, bis hin zur Haarfarbe, um seriöser zu wirken. Das Ziel: ein Darlehen. Die 200.000 Dollar Startguthaben einer Bank hielt sie einige Monate über Wasser. Sie spielte die junge, groß träumende Unternehmerin perfekt. Ihr kein Geld zu geben, wäre gegen die Prinzipien des weißen Feminismus der Upper Class gewesen.
Doch woher kam überhaupt das Geld, das Anna Delvey so lange ausgab? Die Antwort ist Vitamin B. Erst nutzte sie das Geld ihres Freundes, dann bestahl sie eine Gönnerin. Als ihre Kreditkarten abgelehnt wurden, musste der Geldbeutel einer Freundin dran glauben. Immer wieder versprach sie, die Schuld zu begleichen, was allerdings nie geschah. Auch nach ihrem Untergang versuchte sie, sich weiter Geld zu leihen, das ihr vorher durch die Beziehungen und ihre Glaubwürdigkeit als Millionenerbin zur Verfügung stand. Anna Sorokins Fall stellte die Selbstverständlichkeit des einen Prozent in Frage. Schützt der angebliche Treuhandfond vielleicht doch nicht vor dem drohenden Abstieg? Schadenfreude entstand auf der anderen Seite bei den “Normalos”. Endlich ist der Elfenturm mal ins Wanken gekommen!
Nach dem Aufdecken von Annas wahrem Nachnamen und ihrer wiederholt als “clever” bezeichneten Schwindelei kam es zu verschiedenen absurden Täter-Opfer Umkehrungen. Beinahe alle, die von Anna bestohlen wurden, hatten durch den Verlust kein wirklich großes Problem gehabt. Angeblich sagten sie aus Scham nicht aus. Die bestohlenen Reichen allerdings porträtiert die Serie teilweise als Opfer. Auch alle, die gehofft hatten, dass Annas Reichtum auf sie abfärbt, fühlen sich betrogen, weil sie nicht weiterhin von ihrem Geld profitieren können.
Als eine “normale” Person von Anna betrogen wird und danach ein Buch über ihre Erfahrungen schreibt, wird ihr nachgesagt, sie würde sich an der “armen Anna” bereichern wollen! Annas engste und einzige Freundin startet deshalb einen regelrechten Rachefeldzug gegen die Bestohlene und romantisiert Annas Person auch während des Prozesses. Anna entspricht zu gut unserem Bild von der schönen, kreativen Leidenden, von der wegen ihrem Alter und ihrem Gender diskriminierten jungen Frau. Die Gerichtsverhandlungen nutzt Anna, um weiterhin alles, nur nicht “basic” zu sein: sie weigert sich, in den Zeugenstand zu treten, wenn ihr Anwalt ihr nicht die “richtigen” Anziehsachen besorgt.
Ist Anna ein Vorbild sozialer Mobilität? Ist “fake it till you make it” das Rezept, um den neoliberalen, beziehungsweise amerikanischen Traum zu erreichen? Immerhin hat sie es vom vogue-lesenden Mädchen in einer deutschen Kleinstadt zu einer Fake-Treuhandfond-Erbin geschafft! Anna selbst behauptet in Interviews, sie habe alles ihrem Ideenreichtum und ihrer harten Arbeit zu verdanken. Dabei weist ihre Rhetorik starke Parallelen zu der realen Kim Kardashian auf. Erst im diesen März erschienen Interview mit Variety riet Kim allen Frauen im Business: “Get your fucking ass up and work!”
Wir müssen die Inspiration durch Personen ablegen, die angeblich aus eigener Kraft von der Tellerwäscherin zur Millionärin zu werden. Denn diese Ausnahmen sind zufällig und bestätigen nur die Regel, dass unser Habitus unsere Klasse und damit unser Leben beeinflusst. Nicht nur unsere Leistung, sondern vor allem unsere Privilegien bestimmen, wie weit wir im Leben kommen. Zeit, dass sich daran etwas ändert. Oder zumindest am Bewusstsein dafür. Denn solange wir Probleme wie Habitus und Klasse nicht bewusst wahrnehmen und öffentlich darüber diskutieren, ist es unmöglich, wirklich etwas daran zu ändern!
Fazit: Ist “Inventing Anna” jetzt sehenswert? Ja, aber mit deutlichen Vorbehalten! Hinweise auf eine kritische Reflexion bot die Serie bereits selbst, unter anderem durch die Rolle von der Journalistin Vivian Kent und den Slogan “This whole story is completely true. Except for all of the parts that are totally made up”, der zu Beginn jeder Folge eingeblendet wurde. Mir ging das jedoch nicht weit genug: Obwohl das Thema Trigger-Warnung leicht zu einer Bevormundung des Publikums führen kann, hätte ich persönlich mir gewünscht, dass eine Content-Warnung für Victim-Blaming, Romantisierung von Reichtum oder eine politische Einordnung am Rand auftaucht, dass Millionär:innen generell problematisch sind.
Denn es handelt sich eben nicht nur um eine Serie, die einfach schöne Leute in schöner Kleidung zeigt. Meiner Ansicht nach müssen wir Serien, die Celebrities und oder Millionär:innen verherrlichen, stärker hinterfragen und hoffentlich auch irgendwann weniger Aufmerksamkeit darauf legen. Darüber hinaus können wir uns mit einem Blick auf den Börsencrash von 2008 fragen, wie essentiell Schall und Rauch generell in unserem Finanzsystem ist.