Dunja | 16.06.2022
Durftest du dir auch schon hundert Mal anhören, dass du bestimmte Wörter in Aufsätzen, Haus- oder Seminararbeiten in Schule und Uni nicht verwenden sollst? Neben der Vermeidung von unendlich vielen UNDs und verallgemeinernden MANs wurde mir zumindest bei einem Großteil meiner wissenschaftlichen Arbeiten von der Benutzung von ICHs tunlichst abgeraten. Doch wieso überhaupt? Hinter dieser Frage verbirgt sich nicht einfach eine klare linguistische Antwort, sondern ein ausufernder Diskurs über ihre Berechtigung sowie Wissenschaftlichkeit im Allgemeinen, für welche Objektivität noch immer ein entscheidendes Kriterium ist.
Wenn alle Forscher*innen und Autor*innen wissenschaftlicher Texte Individuen und somit selbst denkende Subjekte sind, weshalb sollte dies nicht in ihren Ausführungen sichtbar werden, wo sie diese doch eigens hervorgebracht haben? Noch immer gilt eine vermeintlich objektive Perspektive als die einzige professionelle und wissenschaftliche. Und bis zu einem gewissen Grad ist es auch sinnvoll, persönliche Emotionen oder Anekdoten außen vor zu lassen, wenn sie nicht für das Forschungsthema relevant sind oder nicht direkt Einfluss auf die Perspektive der Forschenden ausüben. Doch ebenso kann es zweckmäßig und vernünftig sein, solche Informationen zu teilen, da trotz der Bemühung zur Objektivität immer nur eine partielle Blickweise jeder forschenden Person auf einen Forschungsgegenstand vorhanden ist.
Partialität bedeutet hier so viel wie “nur zum Teil”, also einfach, dass kein allumfassendes Wissen vorliegt, sondern nur das, was die Forscher*innen selbst mitbringen. Synonym kann in diesem Fall auch auch der Begriff Situiertheit verwendet werden: Hier kann sich vorgestellt werden, dass eine Situation nie von Allen gleich erlebt, sondern nur von Einzelnen erfahren wird. Mensch sollte meinen, dass diese Tatsache vor allem in einem akademischen Umfeld durchaus bekannt und akzeptiert sein sollte, anstatt als unwissenschaftlich zu gelten. Diese Theorie etabliert sich mittlerweile immer mehr, insbesondere in Geisteswissenschaften, welche vom Diskurs und Diskussionen unterschiedlicher Meinungen leben.
Aufgezeigt wurde die Debatte um das sogenannte “situierte Wissen” zwar nicht erst gestern, aber erst zum Ende des 20. Jahrhunderts, unter anderem in den 90er Jahren durch Donna Haraway, die sich mit der Wissenschaftsfrage im Feminismus und dem Privileg einer partialen Perspektive auseinandersetze.
Was nach einer Menge komplexer Wörter klingt, lässt sich auch einfacher erklären: Wissenschaft soll sich eingestehen, dass Forschende als Menschen nur über einen bestimmten Teil von Wissen verfügen und dieser soll im Rahmen von Forschungsprojekten - im Sinne der Wissenschaftlichkeit - transparent dargestellt werden.
Außerdem betont Haraway, dass Wissenschaft nicht einfach nur durch Experimente und Texte vorhanden
ist: „Dekodierung und Transkodierung plus Übersetzung und Kritik – alle zusammen sind erforderlich. Auf diese Weise wird Wissenschaft zum paradigmatischen Modell nicht für Abgeschlossenheit, sondern für das, was bestreitbar ist und bestritten wird.“ (Haraway, S. 239) Dies bedeutet, dass Wissenschaft als solche grundsätzlich ein situiertes Modell ist, welches und innerhalb welchem diskutiert, kritisiert und weitergedacht werden kann. Dazu gehören auch interdisziplinäre Betrachtungen, Vereinfachungen für Laien, Übersetzungen in andere Sprachen, Widerlegen und Experimentieren sowie das Finden neuer Definitionen. Insgesamt könnte mensch es so sehen, dass wir uns mit der Perspektive von situiertem Wissen und Wissenschaft eingestehen, nicht alles wissen zu können und dies zu akzeptieren.
Die Theorie des Situierten Wissens kann nicht nur auf den akademischen Kontext, sondern aufgrund ihres situativen Charakters auch auf gesellschaftliche Phänomene übertragen werden, wie z.B. auf Rassismus, intersektionale Erfahrungen und insgesamt alle Arten von Diskriminierung. Aus der Sicht von Haraways Theorie gibt eine markierte Position (z.B. eine Person, welche Rassismus erfahren hat) und eine unmarkierte (eine Person, die keinen Rassismus erfahren hat). Nun ist es Personen in einer privilegierten und unmarkierten Position nicht möglich zu wissen, wie sich Rassismus für einen von gesellschaftlichen Normen markierten Menschen anfühlt. Dies ist auch der Grund weshalb es zu „Das hab ich doch gar nicht so gemeint“-Situationen kommt, in welchen aus einer unmarkierten Perspektive der unterbewusst verwendete Rassismus abgestritten wird. Wäre sich der unmarkierte Teil der Gesellschaft seinen Privilegien und der Theorie des situierten Wissens bewusst, würde das unbeabsichtigte Diskriminierung vermeiden: Mensch würde davon ausgehen, die diskriminierenden Erfahrungen des Gegenübers nicht vollständig erfassen und nachvollziehen zu können und wäre somit wesentlich vorsichtiger mit möglicherweise kritischen, verletzenden Aussagen. Aus Haraways Theorie leitet sich außerdem ab, jeden Menschen als Individuum zu behandeln, weshalb Intersektionalität mitgedacht werden muss und Diskriminierungen nicht verallgemeinert werden sollten.
Ob also im wissenschaftlichen Arbeiten oder gesellschaftlichen Alltag – mit Haraways Theorie des Situierten Wissens im Hinterkopf sollten wir Menschen unser eigenes partielles Wissen, sowie das der anderen akzeptieren und voneinander lernen.
Quelle:
Haraway, Donna. „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Vermittelte Weiblichkeit: Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie.
Elvira Scheich (Hg.), Hamburg: Hamburger Edition. S. 217-248 (mit Auslassungen).“ In: Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie,
hg. von Sabine Hark, 281-298. Opladen: Leske + Budrich, 2001.