Lilly | 09.11.2024
Die USA wählen Trump – nach einem Gastauftritt bei McDonald's und der sonstigen Clownerie, die dieser Mann personifiziert – Olaf Scholz findet, das ist DER Moment, endlich Nervensäge Lindner rauszuwerfen, worauf RTL diesem eine Teilnahme beim Sommerhaus der Stars anbietet. Und Habeck eröffnet mit einem Freundschaftsarmband, wie es viele Swifties tragen, seinen Wunsch nach der Kanzlerkandidatur:In his Kanzler Era.Was klingt wie ein Fiebertraum ist das Jahr 2024, in dem man Realität nicht mehr von Satire unterscheiden kann.
Wieso nicht gleich eine Reality TV Show starten, um den nächsten Kanzler zu wählen, ähnlich dem Dschungel Camp oder Sommerhaus der Stars, als das die Politiklandschaft zum Teil schon parodiert wurde, z.B. in derHeute Show. Wer hat die beste Morgenroutine, wer legt den besten Tanz zu Barbaras Rhabarberbar hin, wer postet die inspirierendsten Sprüche und kann sich am präsentesten in die kurze Aufmerksamkeitsspanne der Jugend hinein manipulieren?
Im SPIEGEL Video
Zwischen Folklore und Döner-Content: Markus Söder auf Social Media
spricht Anna Clauß, Autorin von
Söder – Die andere Biographie,
von einer “Infantilisierung der Politik”, Menschen würden sich nicht mehr für Inhalte, sondern lediglich für Figuren interessieren und wollen Politik als Show konsumieren, ähnlich wie in den USA. Politik als Entertainment, mit Hauptcharakteren, die relatable sind, oder zumindest unterhaltsam. Markus Söder hat das perfektioniert mit seinen Döner-Auftritten, dem dazu passenden Merch oder auch einem Fernsehauftritt mit Gesangseinlage bei
Inas Nacht. Dabei, erklärt Clauß, wirke es, als würde ihn die Politik selbst langweilen – es gehe zunehmend um Likes und Aufmerksamkeit.
Darf ich daran erinnern, dass wir unser Leben aber nicht ausschließlich auf Bildschirmen betrachten? Was online vielleicht ulkig wirkt oder viral geht, ist nicht unbedingt das, was wir uns für unsere Realität wünschen (sollten). Und Politik schafft Realität.
Politik ist dazu da, Realität zu gestalten und zu verbessern. Wünsche und Sorgen aus der Bevölkerung zu hören, anzuerkennen und ernst zu nehmen, echte Lösungen zu finden, die echten Menschen im echten Leben helfen. Debatten und Konflikte auszutragen, Kompromisse zu erarbeiten. Natürlich werden Themen von Personen repräsentiert, denen es hilft, sympathisch zu wirken. Wohin sie in den Urlaub fliegen oder was sie zu Abend essen, ist mir dabei aber völlig egal.
Make Politik sachlich again!
Wir befinden uns bereits auf einem Niveau nicht unähnlich dem der USA, wo im TV-Duell sämtliche, viel zu private Informationen auf den Tisch gebracht werden oder der
Tod eines Eichhörnchensdem Wahlkampf und der Hetze gegen die Demokraten dient.
Der Grund allerdings, weshalb diejenigen, die sich schamlos selbst inszenieren, so erfolgreich sind, dass schlussendlich auch der Rest mit aufspringt, ist, dass Leute das gut finden.
Scheinbar wollen wir Drama und Shade in der Politik, Performance und Unterhaltung. Einen Kanzler, der in einem Reel zeigt, was
sich so in seiner Aktentasche
befindet und einen Ministerpräsidenten, der einen viralen Filter nutzt, bei dem man Essen nach den eigenen Vorlieben sortiert
(z.B. hier ab Min 10), natürlich mit Seitenhieb zu den Grünen, weil vegan, bäh, das kann man ja gar nicht essen.
Parasoziale Beziehung sind so normal in unserem Alltag geworden, dass wir sie wohl auch mit politischen Entscheidungsträger*innen eingehen möchten. Hier geht es aber nicht um irgendeinen Beef, den ich mir nebenbei reinziehe, wenn mein Leben mal wieder langweilig ist, oder die Werbung eines Influencers, dessen Dubai Schokolade ich kaufe oder eben nicht. Die Leute haben Macht und ihr Verhalten hat wahrhaftige Konsequenzen für uns alle, es ist ernst.
Ich möchte, dass wir wieder über Inhalte reden. Dass es egal ist, ob ein*e Politiker*in Rizz hat – oder, im Sinne deskürzlich gekürten Jugendworts des Jahres, irgendwelche Aurapunkte – dass zählt, welche Themen, Werte und Ziele die Person vertritt. Die müssen relatable sein, nicht ein Söder oder Scholz. Ich wünsche mir Politiker*innen, deren Persönlichkeiten eine möglichst geringe Rolle spielen, die kein peinliches Bashing anderer Parteien betreiben und die nicht in die Politik gehen, um möglichst viel Sendezeit zu bekommen. Dass wieder Werbung gemacht wird für gemeinsame Ideale und Utopien, statt Personenkulte zu kreieren – um es mit den passenden Worten eines ZEIT-Artikels von 2011 zu sagen, in dem es wenig überraschend um Olaf Scholz geht: Lieber ohne Aura.