Stellvertreter*innenleben

Stellvertreter*innenleben

Kerstin | 10.11.2022

Es war noch nie so leicht, nicht als man selbst zu leben. Sich so stark mit Serien, Podcasts und den Leben von Influencer*innen abzulenken, dass man sich selbst dabei verliert. Aber es war noch nie so schwer für mich, zuzugeben, dass ich das alles eventuell nicht nur ein bisschen übertreibe, sondern dass ich vielleicht sogar ein ernsthaftes Problem mit meinem Serienkonsum habe.

Als Kind waren Bücher meine Droge. Sie boten mir fantastische Welten, die mich aus meinem vermeintlich langweiligen Alltag retteten. Damals war ich von diesen ganzen Bildern noch nicht so überflutet, sondern musste sie selbst in meinem Kopf kreieren. Und irgendwann hat meine Mutter dann das Licht ausgemacht und mich somit sicher in die Realität zurückgeholt. Schlafenszeit. 

In meiner Kindheit war Fernsehen ziemlich tabu – hole ich das nun auf? Ich frage mich, ob mein jetziges Problem bereits mit meinem Auszug von daheim angefangen hat. Denn da habe ich es erst einmal voll ausgenutzt, dass es im Gegensatz zu meiner Kindheit ein Netflix-Abo gab und niemand da war, der mir sagen konnte, wann es genug war.


Oder vielleicht hat das auch erst mit dem Lockdown angefangen, wo es akzeptabler wurde, sich zu #bingewatching auf sozialen Medien zu bekennen. Die Gesellschaft sich von sich selbst ablenken und von der kollektiven Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Alle haben das gemacht, also fühlte ich mich nicht schlecht, sondern habe sogar den WLAN-Vertrag geupgraded, damit die Serien flüssig abgespielt werden. Denn jede Sekunde Verzögerung hat mich wieder meiner eigenen Realität schmerzhaft nahe gebracht. Das musste ich um jeden Preis vermeiden. Vor was fliehe ich eigentlich (Oder will ich das überhaupt wissen?)?


Meine Angst bringt mich auch heute lange nach den Lockdowns immer noch dazu, stundenlang im Bildschirm zu versinken. Hilft das Bingewatching denn wenigstens? Es gibt mir zwar eine kurze Auszeit. Jedoch bleibt die mal unterschwellig lauernde, mal lähmende Angst vor den Abgründen, in die uns menschliche Unfähigkeit, Impulsivität und Größenwahn stürzen können.


Note to self: Get your own life, girl!

Jede Serie, in der schon auf der Highschool die Zombie-Apokalypse wartet – oder zumindest Mord und Totschlag – bringt mir Nervenkitzel. Meine Binge-Abende – oder sind es schon eher Tage? – brauchen mindestens eine absolute badass-FLINTA* Hauptfigur. Sie lässt mich etwas fühlen, ich lebe wie durch sie. Das Leben auf dem Bildschirm von fiktiven Anderen ist bunter, deutlicher, leidenschaftlicher. Keine Entscheidung, die ich selbst treffen kann, fühlt sich wirklich real an. Also lasse ich Stellvertreter*innen für mich leben und lagere so mein Gefühlsleben aus.


Und wie bei jeder Sucht kommt immer dieser schmerzhafte Moment des Ernüchterung, in dem ich erkenne, dass ich nicht dieser slayende Charakter bin, sondern nur eine traurige Gestalt auf dem Sofa. Dann verurteile ich mich selbst, denn ich möchte nicht schwach und ein machtloses Opfer von kapitalistischem Marketing sein. Dieses Gefühl der Leere führt oft dazu, dass ich versuche, das noch schmerzhaftere Loch in mir mit demselben Mittel zu stopfen: ich werde immer noch passiver, wenn ich Computer nicht daran hindere, direkt die nächste Folge abzuspielen. Die Absurdität dieses Teufelskreises kann ich in diesen Momenten nicht erkennen und erwarte andere Ergebnisse vom gleichen Verhalten.

“The way to a good life is to create more than you consume”

Irgendwann ist die Angst, mein eigenes Leben zu verpassen, hoffentlich doch größer als die Lust auf die nächste Folge. Durch den übermäßigen Serienkonsum kenne ich meine eigenen Gefühle nicht, sie werden nur immer tiefer vergraben, bis sie irgendwann aus mir heraus brechen und sich wie hier scheinbar von selbst auf Papier zu ergießen. Aber wie weiß ich, wenn dieser Punkt erreicht ist, wenn niemand in meiner Umgebung selbst eine nicht vom Konsum kontrollierte Held*in ist, sondern alle nur so in einem grauen Nebel aus vorbeiziehender Zeit vor sich hin leben? Wir alle sind uns selbst fremd. Einander gegenseitig. 


Außerdem: das ist doch Selfcare nach einem anstrengenden Arbeitstag, oder? Ich meine, mir etwas Gutes zu tun und mich zu belohnen, aber eigentlich betäube ich mich dadurch nur, damit ich nicht selbst anfange von alternativen Utopien zum aktuellen System zu träumen.


Die gute Nachricht ist nicht nur, dass Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung ist. Es gibt so vieles, das mich lebendiger fühlen lässt, als den coolsten Girlboss auf dem Screen zu feiern. Aber vor allem eines gibt mir mehr Adrenalin, als der beste Cliffhanger: selbst zu kreieren. Egal ob auf dem Papier oder im echten Leben: Hauptsache, die Zügel endlich selbst in der Hand haben!

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