PULSopenair

Das Mash-up der Vergangenheit

Foto: privat


Wenn Eskapismus kollektiv Herzschmerz besingen und im Regen tanzen bedeutet, achtsame Moshpits, Raves im Wald und lebensgroße Bierpongspiele – wer würde da nicht hinfliehen bei dem, was sonst Teil unserer Realität ist?

Ein Wochenende auf dem PULS Open Air macht mich nachdenklich und gewährt Einblick in die Welt der sagenumwobenen Gen Z – trotz wiederkehrender Schauer und Hagelgewitter mit ungetrübt guter Laune.

Heutzutage kann man eigentlich nichts mehr machen, was nicht schon gemacht wurde, “der Fluch der Postmoderne” denke ich oft, ob das nun in Kunst, Musik oder Mode ist. Letztere zum Beispiel ist eine Art Best of der letzten vier Jahrzehnte. Highwaist geht Hand in Hand mit Low Waist, Mittel- mit Seitenscheitel, Glitzer mit Capsule Wardrobe – und so weiter. Irgendwie schön, weil dadurch mehr Auswahl besteht, gleichzeitig macht es unsere Zeit undefinierbarer und vielleicht auch die Suche nach Identität nicht gerade leichter.


So ähnlich ist es auch in der Musik. Alle Genres aller Äras und Epochen koexistieren, jederzeit überall abrufbar, oft kann ich neu erschienene Musik nicht mehr von älterer unterscheiden, weil sie zum Beispiel extra nach den 80ern klingen soll. Einige Künstler*innen nutzen bewusst Retro-Elemente, und das nicht nur in der Musik, sondern auch in ihrem Style oder dem Layout ihrer Alben. Paula Carolina zum Beispiel trägt nicht nur Vokuhila, sondern erinnert auch musikalisch an die 80er, bei ihrem Set am Freitagabend erklingt ein Zitat von “Bruttosozialprodukt” in einem ihrer Songs und auch sonst fügt sie sich rockig in den Klang der neuen deutschen Welle. Auf der anderen Seite stehen Künstler*innen wie Ikkimel, die knappe Kleidung und elektronische Sounds à la 90er und 2000er verkörpert. Der junge Künstler Berq berührt mit gefühligen Texten, die uns abholen, nicht nur, weil sie unsere (Internet-)Sprache sprechen (s. Rote Flaggen), sondern auch noch, weil er ein 20-Jähriger ist, der dafür unverschämt viel über die Liebe zu wissen scheint und dies überraschend gut verbalisieren kann. Die österreichische Band Bibiza erscheint in rot-schwarzer Lederkluft und erinnert an Falco, während Badmómzjay die jüngere Schwester von Shirin David sein könnte.


Wir befinden uns stilistisch also irgendwo zwischen Zeitreise und Futurismus, Pop, Rock, Soul, Rap, Electro, Live-Musik und Playback, zwischen Selbstüberhöhung und Melancholie, Liebeskummer, Lebensfreude und Internet. Hier kommt alles zusammen, sei es das umgetextete It’s raining men der feministischen Poprockband Blond, Mayberg, der plötzlich das Simsalagrimm-Lied anstimmen lässt (Ich nehm dich bei der Hand, zeig dir das Märchenland…), bei dem alle begeistert mitsingen oder der Remix verschiedener Apple-Handytöne, der vor dem Set von Ikkimel als Techno-Song abgespielt wird. Ich muss daran denken, dass man ja oft hört, im Sterbeprozess ziehe das ganze Leben mit allen Erinnerungen noch einmal am inneren Auge vorbei. Diese Zeit ist ein einziger Fiebertraum.

Chocolate Remix präsentiert feministischen Reggaeton mit zwei twerkenden Tänzerinnen und bindet Begriffe wie maricón (dt. ‘Schwuchtel‘) im Sinne der Wiederaneignung in ihre Songtexte ein. Blond besingen nicht nur humoristisch die sexistische Realität, in der Frauen leben, sondern performen auch eine Hymne für den Veganismus (oberkörperfrei). Ikkimel lebt auf der Bühne die schamlose Selbstsexualisierung und den Berliner Partylifestyle. Und schließlich rufen beinah alle Künstler*innen zur Europawahl und dem Widerstand gegen die AfD auf. 


Es ist wohl diese Mischung, ein bisschen von allem, die unsere Zeit heute prägt: Persönliches meets Politik, Nostalgie trifft “Uns gehört die Zukunft”; lasst uns im Moment leben, aber gerne dabei noch ein Selfie für Instagram aufnehmen.
Vieles ist ohnehin kaum mehr trennbar und steht in ständiger Koexistenz. Im Grunde nichts Schlechtes, vielleicht eine gesunde Balance aus Eskapismus und Bewusstsein für sich und andere? 


Awareness jedenfalls wurde auf dem PULS-Festival groß geschrieben – und das nicht nur in Form von behindertengerechten Campingplätzen, gegenderten Unwetterwarnungen und Foodsharing- Stand. Das Lineup war vergleichsweise divers, auf einer der Bühnen wurden Podcasts wie Die Frage oder Willkommen im Club, der sich um queere Liebesthemen dreht, Raum gegeben. Auch im Publikum fanden sich viele Queers und Menschen mit Behinderung, alle schienen aufeinander Acht zu geben und sich an der Diversität zu erfreuen.

Diese Generation Z, der nachgesagt wird, faul, egoistisch und handysüchtig zu sein, erweist sich hier als aufmerksam, offen, begeisterungsfähig und lebt im Moment.

Da war es leicht zu vergessen, was gleichzeitig in der Welt vor sich geht. Nur junge Menschen, die zwar eine vom Internet geprägte Sprache sprechen, jedoch selten online sind an diesem Wochenende, auf einem Gelände, wo man nach Empfang aktiv suchen muss. Diese Generation Z, der nachgesagt wird, faul, egoistisch und handysüchtig zu sein, erweist sich hier als aufmerksam, offen, begeisterungsfähig und lebt im Moment. Vergnügungssüchtig vielleicht, aber ist das nicht nachvollziehbar in dieser Zeit? 


Es wäre naheliegend, auf solch einem Festival eine
Good Vibes Only-Einstellung anzutreffen, die politische Themen völlig verbannt. Schließlich kommen viele Leute hierher, um dem Arbeitsalltag zu entfliehen, mal auf alles zu scheißen und (um in Gen-Z zu sprechen) sich gottlos volllaufen zu lassen. So weit, so gängig. Wo ich hinschaue auf dem PULS, erlebe ich tatsächlich gute Laune: Mitarbeitende, die stets freundlich sind, Besucher*innen, die statt Trübsal über das Wetter zu blasen im Matsch tanzen oder, unter lauten “Zugabe”-Rufen der Zuschauenden, einen Pfützendive hinlegen. Lustig war auch die Anwesenheit einiger Kaltenberger Ritter, die als eine Art Easter Egg an die dortigen Ritterturniere erinnerten und durch Blond in sämtlichen Wortspielen gewürdigt wurden: “Ich möchte eine Lanze brechen für die Ritter [...]”, “Ihr seid jetzt unsere Knapp*innen [...]”, “Kriegen wir noch mehr Händegeklapper?”. Full Circle Moment.   


Bei allem, was sich wiederholt, was wiederkehrt, was zitiert und verwertet wird, meist zur Freude aller Beteiligten, die sofort die Referenzen verstehen, ist man sich hier bei einer Sache einig, die sich nicht wiederholen sollte.
Bei aller Nostalgie ist klar, welche Kämpfe hinter uns liegen, was wir erreicht haben, was heute so viel besser ist.  Dies scheint nur leider nicht über die Friedlichkeit Kaltenbergs an diesem Wochenende hinausgedrungen zu sein. 

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