SystemstattKonsumkritik

System- statt Konsumkritik

Cyberliz | 29.04.2021


Wir leben in einer Welt, in der das System auf jeden Einzelnen unterschiedlich stark Druck ausübt. Wie hält man diesen Druck aus? Früher konsumierten die Inkas schon ihre heiligen Koka-Blätter, um harte Arbeit zu kompensieren. Heute greifen Menschen aus nicht recht viel anderen Gründen zu Drogen - nur gibt es in jedem Land gesellschaftliche Regeln, wie mit Rauschmitteln und Konsument_innen umgegangen wird.

Der Beginn der Kriminalisierung mit der Kolonialisierung


Die Menschen waren schon immer fasziniert von Rauschmitteln aller Art. Michael Pollan beschreibt in seinem Buch “How to change your mind”, dass psychedelische Drogen schon seit mehr als 7000 Jahren zur Menschheitsgeschichte gehören. Mal war der Rauschzustand der Schlüssel in transzendente Sphären – Orte der Spiritualität, die herkömmliche Sinneswahrnehmungen übersteigen. Mal wurden sie einfach nur dazu benutzt, um Abstand von den Mühen des Alltags zu gewinnen. In Cusco (Peru) konsumieren Bauern, Bergleute und Viehzüchter schon seit Jahrzehnten Kokablätter. Sie reduzieren nicht nur das Gefühl von Müdigkeit und Hunger sondern geben auch das Gefühl von Stärke und Ausdauer. 

Mit Beginn der Kolonialisierung durch die Spanier wurde der Konsum von Kokablättern und anderen berauschenden Substanzen unter Strafe gestellt. Vermutlich weil Erfahrungsberichte über bewusstseinserweiternde Drogen zeigen, dass das Ego an Relevanz verliert und es möglich wird, sich von bestehenden Ordnungen zu lösen. Diese Denkweise ist allerdings nicht zu vereinbaren mit der Weltanschauung der Europäer, die auf eine Hierarchie abzielt. Rauschmittel zu problematisieren oder zu kriminalisieren kann also ein praktisches Mittel für den Machterhalt sein, wie mehrere Beispiele aus der Vergangenheit zeigen: 1633 ließ Sultan Murad IV., der Herrscher des Osmanischen Reiches, alle Tabakhäuser zerstören und stellte das Rauchen unter Todesstrafe. Damals dienten diese Orte nicht nur für den Konsum, sondern auch für Debatten, Kritik und oppositionelle Gedanken. Etwa zur gleichen Zeit führten auch europäische Staaten Verbote im eigenen Land durch. Aufgrund ihrer Wirkungslosigkeit wurden sie jedoch bald aufgehoben. Die Menschen ließen sich ihren Konsum nicht verbieten. 

Wenn die Kriminalisierung ihre Grenzen erreicht, weil Menschen sowieso Drogen nehmen, wieso dann nicht die Sucht fördern und von ihr profitieren? Dachten sich wohl die Briten im 18. Jahrhundert. Sie bauten massenweise Opium im kolonialisierten Indien an und verkauften es an die Chinesen. Die “British East India Company” besaß damals das Monopol auf Opium-Geschäfte und machte die Ware zum Exportschlager. Das erste Drogenkartell unter britischer Krone entstand. Die Fabrik gibt es heute übrigens immer noch - als Lieferant der Pharmaindustrie. Viele Chinesen verfielen der Sucht und die chinesische Staatsführung wehrte sich: Der erste Opiumkrieg brach aus und sollte nicht der letzte sein (Mehr zur Geschichte der Opiumkriege).

Die westliche Sicht auf Drogen


Eigentlich sollte aus der Geschichte bereits gelernt worden sein, dass Verbote und Profitgier nur einen toxischen Umgang mit Rauschmitteln wiederspiegeln. Aber selbst heutzutage bestimmen Staaten durch Gesetze, welche Drogen schlecht sind und welche nicht. In westlichen Kulturen wird der Feierabend mit legalen Drogen wie einem Bier eingeleitet. Gleichzeitig werden andere Drogen in der deutschen Gesellschaft kriminalisiert und Menschen, die sie konsumieren marginalisiert und eingesperrt. Drogen werden sofort mit Illegalität assoziiert. Begriffe wie Rauschgift werden verwendet, um die Gefahren von Drogen für den Menschen zu betonen. Wenn man einen Blick auf aktuelle Zahlen des UN-Weltdrogenberichts wirft, sieht man wie viele Menschen dem Missbrauch von Drogen zum Opfer fallen. In den USA und Kanada - wohlgemerkt zwei der wohlhabendsten Länder der Welt, gab es 2017 die meisten Drogentoten. Besonders schlecht sei im Allgemeinen die Versorgung der Suchtkranken. So werde nur einer von sieben Drogenabhängigen mit schweren gesundheitlichen Störungen behandelt. Noch schlimmer sehen die Daten in Gefängnissen weltweit aus, in denen verurteile Dorgenkonsument_innen sitzen. Nur elf von 83 Ländern stellen vorbeugende Maßnahmen wie saubere Injektionsnadeln zur Verfügung, um die Gefahr einer Ansteckung mit HIV, Hepatitis C oder Tuberkulose zu verringern. 

In einer Welt, wo es scheint, als könne nur der Rausch das Leben verschönern, sollte doch als erstes die Frage aufkommen: Was ist der Auslöser für einen krankhaften Konsum? Unter welchen Lebensbedingungen wird der Konsum überhaupt zur Gefahr?

Psychische Erkrankungen als Folge des Kapitalismus


Die Struktur in dem System, in dem wir leben, gibt Anreize, die vor allem den Selbstfokus und den eigenen Kampf - ganz nach dem Motto „survival of the fittest“ betonen. Hast du ein Problem, musst du dich nur ganz fest anstrengen, dann löst sich’s schon. Dass ein Mensch aber nicht in einem Vakuum lebt, sondern die Umgebung und Umstände bestimmen, auf was für Möglichkeiten, Support oder Widerstand man trifft, wird dabei völlig vergessen. 

Oliver James stellt sehr überzeugend in seinem Buch The Selfish Capitalist einen Zusammenhang zwischen den steigenden Raten psychischer Störungen und dem neoliberalen Kapitalismus in Ländern wie Großbritannien, den USA und Australien her. Er betont damit, dass soziale Umstände eine psychische Erkrankung bedingen können, was heutzutage bewusst geleugnet wird. So erklärt Mark Fischer in seinem Buch Kapitalist Realist, dass psychische Erkrankungen als individuelles chemisch-biologisches Problem betrachtet werden. Und davon profitiert der Kapitalismus, wie Fischer argumentiert: Erstens verstärke es den Drang des Kapitals zur Individualisierung (du bist krank, kümmere dich selbst drum mit Self-Care-Produkten). Und zweitens biete es einen enormen lukrativen Markt, auf dem multinationale Pharmaunternehmen mit ihren Medikamenten den Erkrankungen entgegenwirken können. Doch inwiefern können Maßnahmen, die nur die Folgen einer Krankheit anpacken und nicht die Wurzel, wirklich hilfreich für den Menschen sein und nicht allein für den Kontostand weniger Unternehmen? 

Natürlich sind psychische Erkrankungen wie Depressionen beispielsweise auf einen geringen Serotoninspiegel zurückzuführen, doch das erklärt noch lange nicht, warum und was bei bestimmten Individuen einen geringen Serotoninhaushalt auslöst. Fischer’s Argumente werden auch von dem “Rat-Park-Experiment” (1978) gestützt, dass das Suchtverhalten genauer untersucht hat. Gibt man einer isolierten Ratte nur lange genug Morphin zusammen mit Wasser, wird sie süchtig und entscheidet sich nur noch für die Droge. Als Vergleich wurden Ratten in einem Park unter artgerechten Bedingungen gehalten und es zeigte sich: Sie konsumierten wesentlich weniger Morphin. Die Forscher_innen schlussfolgerten daraus: Sucht ist eine Reaktion auf umweltbedingte Stressoren. 

Deshalb wird Sucht zur Klassenfrage.


Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Stress oder psychische Probleme auslösen, können nicht länger privatisiert werden. Wenn Menschen aus der sozialen Ordnung fallen, darf nicht allein den Drogen die Schuld gegeben werden. Die Begründung, Drogen seien unglaublich gefährlich und für soziale Schieflagen verantwortlich, ist nur eines: ein kalkuliertes Ablenkungsmanöver. Dadurch muss nicht darüber geredet werden, welche strukturellen Schieflagen unsere Gesellschaft hat. Wie wenig ökonomische oder politische Unterstützung Jugendkulturen erhalten. Personen, die in einer Sucht gefangen sind, unter Umständen deswegen ihren Job oder ihre Wohnung verlieren, werden in unserer Kultur als Taugenichtse behandelt. So erzählt ein Jugendlicher Obdachloser in der Frankfurter Rundschau davon, wie  obdachlose Suchtkranke von den Behörden im Stich gelassen werden. Sobald eine Person nicht mehr verwertet, oder ausgebeutet werden kann, gibt es selten eine gesellschaftliche Antwort auf seine Belange. Das spiegelt das Gefährliche an einem System wider, das Probleme auf die/den Einzelne/n abwälzt: Es wird zur Klassenfrage. 

Für viele Menschen dient der Rauschzustand dem Eskapismus. In einer Klassengesellschaft ist für die einen Alkohol oder Koks ein Statussymbol und damit ein gelungener Ausgleich zum Optimierungswahnsinn. Doch für andere, wie prekär Beschäftigte, ist der Rausch oft das einzige Mittel, um ihre psychischen oder körperlichen Schmerzen zu betäuben, also ein Katalysator ihrer Probleme. Doch ihnen fehlen oft finanzielle Rücklagen, um für vier Wochen Suchttherapie nicht in die Arbeit zu gehen. Und so kann die Sucht für Lohnarbeiter_innen den Ruin oder gar den Tod bedeuten.   

Die Lösung wird niemals kein Konsum sein


Abstinenz kann ein erfolgreiches Mittel bei der Suchtprävention sein. Doch ähnlich wie bei der Aufklärung über Sex kann die Devise nicht lauten: Wenn ihr nichts über Sex wisst, dann habt einfach keinen Sex mehr. Das Bedürfnis nach Fortpflanzung ist wie der Rauschzustand ein Urtrieb. Diesem Trieb folgen natürlich auch Tiere, sei es der Eukalyptus des Pandas oder die Katzen-Minze. Die Lösungen, die der Kapitalismus allerdings liefert, wie Profitmaximierung und Kriminalisierung, zeigen nur die Unfähigkeit mit der Wucht an Drogenkonsum umzugehen. Wie bei allen Krankheiten braucht es auch hier Strukturen, die dem Ausbruch entgegenwirken. Dafür müssen den Menschen ihre finanziellen Bürden genommen werden. Besonders aus (finanzieller) Perspektivlosigkeit wird die Sucht zur Mausefalle. In einer digitalen Ära, in der Menschen vermehrt das Gefühl der Vereinsamung verspüren, werden psychische Erkrankungen und auch der Drogenkonsum weiterhin zunehmen. Hierzulande wird dennoch weiterhin reaktionär gehandelt. 


Wenn der Rauschzustand schon immer ein Teil der Menschheitsgeschichte war, wieso werden Drogen weiterhin tabuisiert und damit ein unreflektierter Umgang damit begünstigt? 


Das Paradebeispiel für eine erfolgreiche Drogenpolitik ist das Land Portugal, das seit 2001 Drogen für den persönlichen Gebrauch entkriminalisiert hat. Dort wird nicht zwischen "harten Drogen" wie Heroin und "weichen" Drogen wie Cannabis unterschieden. Mit Aufklärungsarbeit und Prävention hat der Drogenkonsum dort allgemein und besonders bei jungen Erwachsenen rapide abgenommen. Sich also wirklich mit der Thematik auseinanderzusetzen, scheint viel vielversprechender zu sein, als ständig nur die Gefahren zu betonen. Doch dafür müssten große Summen an Geld in soziale Sicherheits- und Präventivmittel für und Drogenkranke fließen. Solange Gesundheit aber ein Business bleibt und kein Recht, wird sich daran wenig ändern. 

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