Klara | 10.05.2024
67% der deutschen Erwachsenen tragen eine Brille – darunter ich selbst. Für mich galt meine Brille lange als Normalität, bis sich vor kurzer Zeit folgende Situation ereignete:
Samstagabend: Ich bin mit einer Freundin in einer Bar etwas trinken, wir tanzen und ich bemerke einen Kerl, der in meine Richtung starrt. Kurz darauf spricht er mich an. Etwa drei Sätze nach unserem Smalltalk fragt er mich, wieso ich denn eine Brille trage. Hä? Was ist das für eine Frage? Also antworte ich sachlich darauf, dass ich kurzsichtig bin und mich sonst nicht wohl fühle. Daraufhin kommentiert er: „Aber deine Brille versteckt deine ganze Schönheit!“
Als wäre diese Aussage nicht schon schlimm genug, nimmt er mir einfach meine Brille aus dem Gesicht ab. Ganz ehrlich? Ich war perplex; die Situation war derart absurd, dass sie schon wieder amüsant war. Im Nachhinein bin ich aber von dieser Übergriffigkeit wirklich schockiert und wie so oft im Leben weiß man erst mit zeitlichem Abstand, wie man sich hätte verhalten müssen. Dennoch entgegne ich ihm, ob er nun damit sagen wolle, dass ich mit Brille hässlich sei – Eigentor. Das kann er so natürlich nicht stehen lassen und korrigiert, ich sehe damit „schlau“ aus. Nachdem nun alle Klischees durchgespielt sind, antworte ich mit einem genervten „Ich bin schlau“. Zum krönenden Abschluss schlägt er mir noch vor, ich könne ja Kontaktlinsen tragen. Wie ihr euch alle vorstellen könnt, hatte ich daran noch nie in meinem Leben gedacht und nur darauf gewartet, bis mir ein männliches Genie seiner Art diese Erleuchtung bringt. Und so erlebte ich innerhalb von zehn Minuten eine Menge Input, mit dem man jedes feministische Glossar mit Beispielen schmücken könnte: Ein klassischer Fall von Male Gaze, in dem mir ungefragt die Meinung eines Mannes in Bezug auf mein Äußeres aufgedrückt wird, schließlich sind seine Vorstellungen von Schönheit jene, die von Frauen wie mir zu erfüllen sind. Das Resultat: Frauen werden objektiviert und stereotypisiert. Zudem ist seine Erklärung, mich auf mein nicht voll ausgeschöpftes optisches Potential aufmerksam zu machen, absolutes Mansplaining – diese übergriffige oder gar bevormundende Art, mein Auftreten zu kommentieren, als hätte ich ihn hoffnungslos darum gebeten. Außerdem ist hier ein dominierendes Schönheitsideal zu beobachten, das das Brillentragen scheinbar automatisch ausschließt. Dieseswird nämlich im Gegenzug mit Intelligenz assoziiert, was uns auf die falsche Dichotomie Attraktivität-Intelligenz bringt; die Vorstellung, dass Frauen entweder intelligent oder schön sind, nicht aber beides zugleich. Denn genau das implizieren die Aussagen des Mannes im Beispiel: Mit der Brille sehe ich schlau aus, ohne sehe ich schön aus. In Bezug auf die Verknüpfung „Schönheit“ und „Brille“ ist mir Folgendes aufgefallen.
Erstens: Habt ihr schon mal Models gesehen, die eine Brille tragen? Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern (Brillenwerbungen logischerweise ausgeschlossen). Zweitens: Gerade in Filmen oder Serien tragen Frauen des Öfteren Brillen, aber wieso? Dafür gibt es ganz einfach zwei Szenarien: Entweder spielen sie eine „schlaue Streberin/Außenseiterin” oder eine “sexy Chefin/Lehrerin”. Es wäre interessant zu wissen, wie viele Schauspielerinnen in Wahrheit eine Brille tragen, diese aber zum Drehen abnehmen müssen,
weil sie nicht zur Rolle passt. Wenn also Frauenfiguren eine Brille tragen, hat dies meistens eine Funktion: Sexualisierung oder ‚Nerdisierung/Verklugung‘. Wäre ja verrückt, wenn sie die Brille tragen würden, um richtig sehen zu können! Und drittens: Ich glaube, dass auch Männer von diesem Phänomen betroffen sind. Ich habe zumindest kein männliches Model mit Brille im Kopf. Auch hier scheint dies nicht in das verbreitete Schönheitsideal zu passen. Ich wage aber zu behaupten, dass inszenierte Männer mit Brille nicht gleichermaßen sexualisiert werden wie Frauen. Der Streber-Nerd mit Brille kommt mir da eher bekannt vor.
Wenn ich diese Geschichte hier selbst niederschreibe und analysiere, kommen mir außerdem einige Fragen in den Sinn: Hat dieser Mann ernsthaft gedacht, dass er mit diesem Gespräch bei mir landen kann? Ein Szenario à la: Wow, er findet mich hübsch – und das, obwohl ich eine Brille trage. Und dann hat er auch noch so einfallsreiche Ideen: Kontaktlinsen würden mir wirklich besser stehen! Ganz abgesehen davon stellt sich die Frage, wer zur Hölle ihm das Recht gibt, mein Äußeres ungefragt auf diese Weise zu kommentieren. Scheinbar denken einige Männer heutzutage immer noch, dass Frauen grundsätzlich danach streben, Männern zu gefallen, als sei die Bestätigung eines Mannes das Grundmotiv jeder Art des Schminkens, Herrichtens, der Sportlichkeit etc. Die unangenehmste Konsequenz dieser Erfahrung ist aber, dass ich mich tatsächlich frage, ob ich ohne Brille vielleicht wirklich besser aussehen würde. Schon vor dieser bizarren Unterhaltung hatte ich Momente, die meine Unsicherheiten hervorbrachten: Ich habe meine Brille abgezogen, bevor ich auf eine Party gegangen bin. Ich fühle mich tatsächlich manchmal weniger hübsch oder habe das Gefühl, meine Brille zerstöre mein Outfit.
Daher appelliere ich sowohl an alle Brillenträger und Brillenträgerinnen: Ihr seht super aus – mit und ohne Brille – und an den Rest: Denkt einfach mal über Gesagtes nach, das wäre spitze.
Klara ist 23 Jahre alt und studiert im Master Romanistik an der LMU. Passend dazu arbeitet sie schon länger an der Uni, etwa im Sprachenzentrum der Französischabteilung oder in der romanischen Philologie, um andere Studierende mit Tutorien zu begleiten. Nebenbei hat sie sich vor allem um die Betreuung geflüchteter Frauen aus dem Irak, dem Iran, aus Syrien und der Ukraine gekümmert; von Alphabetisierung und Deutschunterricht bis zum Wocheneinkauf mit dem Auto.