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Interview mit Fatia

Dunja | 22.01.2025


Hinweis: Dieser Artikel behandelt das Thema weibliche Genitalverstümmelung (FGM), einschließlich körperlicher und psychischer Folgen. Inhalte können belastend wirken und beschreiben Gewalt an Frauen und Mädchen.




Fatia ist in Kenia und London aufgewachsen und lebt mittlerweile seit fünf Jahren in Deutschland. Sie hat mit uns über ihre Geschichte mit FGM und über ihren Aktivismus gesprochen.


Hallo Fatia. Falls du sie teilen möchtest, kannst du uns etwas über deine persönliche Geschichte mit FGM (female genital mutilation) erzählen?


Meinen ersten Kontakt zu FGM hatte ich mit sechs oder sieben Jahren, als meine Schwester und ich am gleichen Tag beschnitten wurden. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen:  An die glückliche Atmosphäre, verbreitet durch die erwachsenen Frauen um uns herum, deren Lachen und Quatschen die Luft erfüllte. Für sie war das Ganze ein festlicher Anlass, ein Ritual auf dem Weg, eine erwachsene Frau zu werden. Für mich war es allerdings der Beginn eines stummen Kampfes.


Über Jahre hinweg lebte ich mit den physischen und emotionalen Narben dieses Tages, ohne mich jemals wirklich mit dem Schmerz auseinanderzusetzen, der damals verursacht worden ist. Das Thema fühlte sich zu schwer an, um offen darüber zu sprechen; auch weil es tabuisiert wurde. Bis ich nach Deutschland zog, schleppte ich das Thema, verschlossen wie ein dunkles Geheimnis, in mir mit. Erst hier begann ich, mich mit den Auswirkungen von FGM auf mich und mein Leben zu beschäftigen. 


Auf der andauernden Suche nach mir selbst wurde mir klar, dass der Akt der Beschneidung nur der Anfang war. Dies öffnete ein Fass an komplexen Emotionen und Erfahrungen, welche ich bis dato nie völlig verarbeitet habe. Hinzu kamen Gefühle wie Einsamkeit und Isolation als eine FGM-Überlebende. Mir wurde klar, dass ich mit meinem Leid nicht alleine war und viele Frauen ähnliche Bürden mit sich tragen, und dies meist schweigend. 


Während meines Heilungsprozesses verspürte ich ein wachsende Verantwortung, andere FGM-Überlebende zu unterstützen und diesen zu helfen. Ich begann, über meine Erfahrungen zu sprechen und meine Geschichte zu teilen, in der Hoffnung, andere Frauen zu inspirieren, es mir nach zu tun. Je mehr ich über FGM und dessen Folgen lernte, desto entschlossener wurde ich, dieser Praktik den Kampf anzusagen. 


Heute sehe ich mich selbst als eine Stimme derer, die stumm gelitten haben. Ich unterstütze und leiste Aufklärungs- und Bildungsarbeit, schaffe Bewusstsein für das Thema und helfe weiteren Überlebenden. Ich teile meine Geschichte nicht nur, um selbst zu heilen, sondern auch um andere zu empowern und zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. 


Meine Reise und mein Heilungsprozess sind noch nicht abgeschlossen, aber obwohl der Weg herausfordernd ist, ist er auch gefüllt mit Hoffnung und Widerstand. Deshalb arbeite ich daran, meinen Schmerz zu nutzen, anderen zu helfen, ebenfalls ihre Stimme zu finden. 


Hallo Fatia, du selbst bist eine FGM-Überlebende. Würdest du deine persönliche Erfahrung mit uns teilen? Wie hat dies dein Leben beeinflusst oder tut dies immer noch?


Gerne. Ich war sechs oder sieben Jahre alt, als ich beschnitten wurde. Ich bin in einer Gemeinschaft aufgewachsen, wo der Großteil der Mädchen beschnitten wurde und das somit als übliche Praxis etabliert war. Ich bin ohne Verständnis dafür aufgewachsen, wie sehr mich dies beeinflusst hat. Es passierte und wurde danach nie wieder angesprochen, weshalb ich mir der Folgen für mich selbst nicht bewusst war. Heute verstehe ich die psychologischen, physischen und sexuellen gesundheitlichen Probleme, welche ich aufgrund von FGM habe.


Warst du dir bewusst, was mit dir damals passiert ist?

 

Am Tag der Beschneidung wurden wir sehr beiläufig informiert, was passieren würde. Ich wusste, dass es etwas ist, was sie Mädchen antaten, aber ich hatte keine Ahnung, was dieser Prozess beinhaltete. Erst, als ich angeleitet wurde, mich hinzusetzen und meine Beine zu öffnen, verstand ich, was passieren würde. In diesem Moment wusste ich, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. 


Wie wurde FGM in deiner Gemeinschaft wahrgenommen? Welche Bedeutung wurde dieser Praxis zuteil? 


In meiner Gemeinschaft wird FGM als ein gewöhnlicher “Schritt ins Erwachsenenleben” verstanden, man glaubt,  die Sexualität der Mädchen kontrollieren zu können. FGM wird sowohl aus religiösen als auch kulturellen Motiven praktiziert, weshalb es von vielen von uns als unumgänglich wahrgenommen wurde.

 

 Wann und inwiefern hat sich deine Perspektive auf FGM verändert?

 

Seit dem Tag, an dem es passiert ist, fühlte ich, dass was ich erlebt hatte falsch war. Jetzt als Erwachsene ist es mir möglich, meine Geschichte öffentlich zu teilen und FGM-Überlebenden eine Stimme zu geben. 


Wie würdest du den Verlauf deines emotionalen und psychologischen Heilungsprozess beschreiben? Wo hast du Unterstützung bekommen?


Ich habe über die letzten Jahre begonnen, die psychologischen Auswirkungen meiner Erfahrungen zu entdecken. Insbesondere mit einer Therapie zu arbeiten hat sich dabei ausgezahlt, auch weil ich dort die Bestätigung bekommen habe, dass was ich durchgemacht habe falsch und gewaltsam war. Ich habe außerdem alternative Therapiemethoden ausprobiert wie “Embodied Movement”. Organisationen wie Terre des Femmes stellen wertvolles Wissen und Training zur Verfügung und das Desert Flower Center bietet holistische Behandlungen durch ein geschultes Team von Psycholog*innen und Chirurg*innen an.

 

Du hast begonnen, mit anderen Überlebenden zusammenzuarbeiten, nachdem du festgestellt hast, dass euren individuellen Erfahrungen nicht genug Raum gegeben wurde. Was ist der Fokus deines ehrenamtlichen Engagements?


Ich möchte den Fokus meiner Arbeit darauf legen, die Stimme der Überlebenden zu stärken und ihre individuellen Erfahrungen, sowie die der ihnen nahestehenden Menschen, zu teilen. Zusätzlich möchte ich ein Bewusstsein für systemische Herausforderungen, wie z.B. Ressourcen für mentale Gesundheit, “trauma-informed care” und Zugang zu Hilfsangeboten schaffen.


Was ist deiner Meinung nach das größte Bedürfnis von FGM-Überlebenden in Sachen Gesundheitsversorgung sowie psychologischer Hilfe? 

 

Es gibt nicht genügend Fachkräfte im Gesundheitswesen, die ausgebildet sind,  speziell auf die Bedürfnisse von Frauen mit FGM einzugehen. Bei vielen Überlebenden können Besuche von z.B. Arztpraxen traumatische Erinnerungen triggern. Der erste Schritt ist, zu garantieren, dass  medizinische Fachkräfte geschult werden, FGM-Überlebenden mit Sensibilität und kulturellem Versätndnis zu begegnen.

 

Mit welchen Herausforderungen wurdest du konfrontiert, als du begonnen hast, offen über FGM zu sprechen und wie hast du diese gemeistert? 


Der schwierigste Part war die Angst vor Gegenreaktionen, insbesondere von meiner betroffenen Gemeinschaft. Die Überzeugung, dass das, was ich tue, der richtige Weg ist, hilft mir, diese Angst zu überwinden. 

 

Kollaborierst du mit anderen Organisationen oder Aktivist*innen; falls ja, wie wirkt sich die Zusammenarbeit auf deine Arbeit aus?

 

Ich bin dankbar für die Unterstützung von Terre des Femmes auf meiner neuen Reise, da sie mir Mut und Kraft gegeben haben, meine Arbeit fortzusetzen. Außerdem arbeite ich eng mit Habiba Al-Hinai zusammen, Mitbegründerin der Omani Association for Human Rights (OAHR), welche mein Bestreben teilt, gegen FGM vorzugehen und Überlebenden wichtige Unterstützung zu bieten.

 

Welchen falschen Vorstellungen haben Menschen von FGM in den betroffenen Gemeinschaften – oder auch Außenstehende? 

 

Betroffene Gemeinschaften, welche die Praxis von FGM fortsetzen, glauben, dass sie im Interesse der Mädchen handeln und sehen FGM als eine Schutzmaßnahme. Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass FGM keine gesundheitlichen Vorteile hat und zu großem physischen und psychischen Leiden führt. 

Ich kann mir vorstellen, dass Außenstehende FGM als kulturelle Eigenart oder religiöse Praktik verstehen. In der Realität ist es der Verstoß gegen Menschenrechte.


Wie vereinbarst du es, für FGM-Überlebende verschiedener Kulturen einzutreten, und gleichzeitig trotzdem die Werte der betroffenen Gemeinschaften zu respektieren?

 

Als Überlebende teilen wir eine gemeinsame und unglückliche Verbindung, die uns hilft, Herausforderungen in der Kommunikation zu verringern. Der beste Weg für die Zukunft ist, mit den Leitenden der betroffenen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, welchen die Menschen dort vertrauen. Die Beteiligung der Gemeindeleiter kann helfen, in einen Dialog zu gehen und Verständnis zu schaffen, quasi als Brücke zu fungieren, um kulturelle Unterschiede zu überwinden.


Wie denkst du über Interventionen durch Personen/Organisationen aus dem globalen Norden? Tragen diese Verantwortung?

 

Meist wird FGM und damit auch das Vorgehen dagegen als Problem wahrgenommen, das vor allem den globalen Süden betrifft. Jedoch ist es wichtig zu verstehen, dass allein in 17 europäischen Ländern 190 000 Mädchen und Frauen von FGM bedroht sind. Um ein Einschreiten und Hilfe wirklich effektiv zu gestalten, muss FGM als globaler Verstoß gegen Menschenrechte verstanden werden, was ein gemeinsames und umfassendes Vorgehen erfordert. 


 Was ist dein Rat an andere FGM-Überlebende?

 

Eines meiner wertvollsten Werkzeuge war die Kombination aus Bildung und Selbstbehauptung. Es ist außerdem essentiell, dich in Austausch mit deinen Gesundheitsdienstleistern zu begeben und nach Hilfe zu fragen, angemessene Ressourcen und Unterstützung zu finden. Ergreif die Initiative, bilde dich weiter und recherchiere ausführlich zu dem Thema, gerade zu den psychischen Auswirkungen. Mehr über FGM zu wissen kann dir helfen, deine Erfahrungen zu verstehen und somit den Weg der Heilung erleichtern.



Wir danken Dir für das  Interview!


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