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West Side Story oder auch - Always Anita, never Maria

Amapola | 10.12.2020

„Life is all right in America / If you’re all white in America“: Diskriminierung, Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit, zu jeder dieser Thematiken lassen sich Szenen in Leonard Bernsteins West Side Story finden. Problematiken, die nach mehr als sechs Jahrzehnten immer noch nicht an Aktualität verloren haben.

Innerhalb des Stückes werden viele Gesellschaftsprobleme thematisiert, parallel dazu jedoch trotzdem Geschlechternormen sowie Latinx-Stereotypen aufrechterhalten.

Seit Jahren prägt das Musical West Side Story die Theaterbühnen und ab der Erscheinung der ersten Verfilmung 1961 unter Jerome Robbins wurde das Musical weltbekannt. Nahezu jede:r kann bei Songs wie I Feel Pretty oder America mitsummen. Innerhalb des Stückes werden viele Gesellschaftsprobleme thematisiert, parallel dazu jedoch trotzdem Geschlechternormen sowie Latinx-Stereotypen[2] aufrechterhalten. Anhand einer kleinen Filmanalyse der Inszenierung von Robbins sollen ein paar Anregungen gegeben werden, damit ihr, wenn ihr das nächste Mal in das Musical geht oder nächstes Jahr in der Neuverfilmung von Bernstein sitzt, aus einer anderen Perspektive auf die Handlung schauen könnt. Hierfür werde ich vor allem auf die Figuren Anita und Maria eingehen.   
 
Die West Side – eine Männerwelt
 
Die gesamte Handlung des Musicals dreht sich um die Sharks und die Jets, zwei Gangsterbanden in New York die durch ihren Konflikt voneinander getrennt werden. Eines  verbindet sie jedoch: ihre patriarchalen Strukturen – Männerwelten, in denen Frauen überwiegend die Rolle der Geliebten, des Accessoires und der Tanzpartnerin vorbehalten ist.[3]

Aufgrund der Tatsache, dass Zuschauende einen deutlich tieferen Einblick in die Liebeswelt der Sharks bekommen und deutlich öfter Szenen zwischen Anita und Bernardo als zwischen Graziella und Riff zu sehen sind, erfahren wir mehr über die Shark-Frauen, weshalb diese auch einen komplexer ausgestalteten Charakter erhalten. Aktiv in der Gang mitwirken dürfen aber die Frauen natürlich nicht. Betrachten wir jedoch die Teilnahme am Gesang, bekommen die Jets deutlich öfter die Möglichkeit sich gesanglich zu behaupten, wobei hier wiederum die Jet-Frauen nicht zu Wort kommen. Während Anita ihr America bekommt, stehen die Jet-Frauen meisten rum und sagen nicht mehr als 10 Sätze im ganzen Musical. Die Jet-Mädchen haben absolut nichts zu tun, sie haben keinerlei Plot-Funktion oder stellen ihre eigene Welt in Beziehung zu den Männern dar. Ihre oberflächliche Existenz spiegelt wider, dass die Mitglieder der Jets von einer weißen, heterosexuellen cis-Welt geprägt sind, in der Frauen an zweiter Stelle kommen. [4]
 
Neben der Figur der Maria wird Anita am meisten Platz im Musical eingeräumt. Doch in den meisten Fällen passiert dies eingebettet in eine Exotisierung und Stereotypisierung der Puerto Ricanerin.

In America

In dem Song America nimmt Anita eine pro-nordamerikanische Position ein und besingt die wunderbaren Möglichkeiten, die sich aus dem Leben in den USA ergeben können.[5] Im Gegensatz dazu sehen die männlichen Mitglieder der Sharks die negativen Seiten der USA. Ein Land, dass sie ausschließt, diskriminiert und benachteiligt. So könnten die Unterbrechungen und Zwischenrufe von Bernardo und den anderen männlichen Sharks als Problematisierung ihres Optimismus gesehn werden, wenn nicht sogar als Methode ihre Stimme subtil zum Schweigen zu bringen. [6]
Da es in der Filminszenierung eben keinen Schlagabtausch zwischen Frauen, sondern zwischen Frauen und Männern gibt, trägt dies dazu bei, dass Anita bzw. den anderen Shark-Frauen die ‚naive‘ Rolle zugeteilt wird und die Männer den Part der ‚Realisten‘ übernehmen. Dies hat zur Folge, dass Geschlechterstereotypen aufrechterhalten und reproduziert werden.
 
Wie schon bereits erwähnt, stellen Maria und Anita die beiden weiblichen Hauptfiguren innerhalb der West Side Story dar. Während Maria in der Filminszenierung ihrem sprechenden Namen getreu wird und dem Klischee der reinen Jungfrau folgt, wird Anita stark exotisiert und sexualisiert.[7] Dies wird sowohl durch die Kostümierung als auch durch die Tatsache untermauert, dass für den Film Rita Moreno – eine Schauspielerin puerto-ricanischer Herkunft – für die Rolle der Anita ausgewählt wurde, während Maria von der nordamerikanischen weißen Schauspielerin Natalie Wood gespielt wird.[8] Dies spielt eine Rolle, da Moreno trotz ihres puerto-ricanischen Hintergrundes dunkler geschminkt wurde sowie mit einem falschen Akzent sprechen musste, um es Zuschauenden noch ersichtlicher zu machen, um welche ‚Gruppe‘ es sich hier handelt. So soll vor allem auch eine Verwechslung mit der jungfräulichen Maria vermieden werden. Durch das starke Makeup wird sichergestellt, dass die rassifizierten Sharks gut unterscheidbar von den weißen Jets sind.[9]
 
Ebenso wird im Song America die Stereotypisierung musikalisch unterstrichen. Der Seis-Rhythmus zu Beginn des Stückes, ist in diesem Fall eine geeignete Wahl, da Seis in Puerto Rico sehr beliebt war und somit eine authentische Auswahl ist. Für den Refrain von America benutzt Bernstein jedoch den schnelleren, scharf rhythmischen Stil Huapango, der aus Mexiko stammt.[10] Durch das dazukommende Klatschen der Schauspieler:innen und die Choreografie werden typische Muster aus der spanischen Flamencokultur entnommen – was durch Zwischenrufe wie „¡Olé!“[11] noch deutlicher konnotiert wird. Das hat zur Folge, dass die Puerto-Ricaner:innen durch die Musik auf einen Nenner herunter gebrochen werden. So sind eben alle Lateinamerikaner-:innen Mexikaner:innen oder Spanier:innen…

Die Objektifizierung Anitas durch den Male Gaze

Der Male Gaze, ein Begriff aus der Filmtheorie, reproduziert den Standpunkt eines männlichen Zuschauers in der Kinematographie und in den Erzählkonventionen. Männer sind sowohl Gegenstand des Blicks als auch diejenigen, die die Handlung gestalten. Frauen sind Objekte des Blicks und diejenigen, die von der Handlung geformt werden.[13] Diese Objektifizierung Anitas wird in der Filminszenierung von Jerome Robbins an zwei Szenen deutlich.

Während sich die Sharks und Jets auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten und Maria und Tony auf ihre Flucht, wird Anita für ihren Part auf dem Bett sitzend gefilmt, wie sie sich ihre Strümpfe anzieht.[12] Somit ist in dieser Szene das Phänomen des Male Gaze vorzufinden. Im Falle dieser Analyse ist Anita dieses ‚Objekt‘. Indem die Tonight Szene in ein rotes Licht getaucht wird, erscheint der Moment, in dem sie über die geplante Nacht mit Bernardo singt, noch erotischer.
Anita wird das ganze Musical über als eine Frau inszeniert, die weiß, was sie will und sich ihrer Sexualität auch bewusst ist, was im Songtext des Tonight Quintettes deutlich wird:
 
Anita’s gonna get her kicks tonight / We’ll have our private little mix tonight / He’ll walk in hot and tired / poor dear / Don’t matter if he’s tired as long he’s here.[14]
 
Als sie sich jedoch in das Territorium der weißen Jets begibt – lediglich um Tony vor Chino zu warnen – versuchen diese, sie zu vergewaltigen.[15] Diese Szene in Docs Laden zeigt auf, wie Anita wahrgenommen wird. „Bernardos tramp”[16] kann nicht getraut werden und sie wird wie ein Objekt hin und her geschubst. In dem Moment, indem Action Anita mit ihrem Schal an sich zieht und dabei „Cha, Cha, Cha, Cha“ schreit, wird nur ihr Körper vom Kopf abwärts gefilmt [17]. 
Dies stellt dar, wie Anita entpersonalisiert wird, sowie auf ihren Körper reduziert wird.
 
Das Jet-Mitglied Anybodys steht daneben und schaut zu. Mit der hitzigen Frage „Bernardos girl wants to help?“[19] stichelt sie den Konflikt in Docs Laden an und zeigt die Problematik der Frauenwelt innerhalb der West Side Story auf. Durch die Figur Anybodys gelingt es zwar, gesellschaftliche Geschlechternormen teilweise aufzubrechen, da sie jedoch trotzdem innerhalb ihrer rassifizierten Matrix lebt und darauf hinarbeitet, in dieser anerkannt zu werden, erscheint der progressive Aspekt an ihr obsolet. Es gelingt ihr zwar, sich ‚hoch zu arbeiten‘ und offiziell als Teil der Jets anerkannt zu werden, jedoch tritt sie nicht für die Rechte anderer Frauen ein – wie am Beispiel der Belästigung Anitas deutlich wird. Anybodys sucht nach Macht, indem sie sich von subalternen (rassifizierten) Menschen distanziert und versucht, ihre geschlechtliche Unterdrückung auf ihr Privileg des Weißseins zu verdrängen [20].

Es geht nicht darum, das Musical nie wieder anzuschauen und grundsätzlich abzulehnen. Vielmehr ist das Ziel, einen kritischen Blick darauf zu entwickeln und in zukünftigen Inszenierungen mit bestimmten Stereotypen zu brechen. 

Die Kehrtwende

Anita vertritt zu Beginn des Musicals eine pro-nordamerikanische Position und sieht viele Vorteile im Leben in den USA. Nachdem Bernardo von Tony ermordet wurde, bekommt diese positive Einstellung Risse, was in ihrem Song A Boy Like That sichtbar wird. Hier versucht sie, Maria von Tony abzubringen, jedoch ohne Erfolg. Obwohl Maria auf Tony fokussiert ist, steht Anita immer noch weiter für sie ein und gibt ihr die Information, dass Chino einen Revolver hat, und geht für sie zu Doc, um Tony zu warnen. Die Hoffnung, aus dem manipulativen System der Gangs auszubrechen, verleitet sie dazu, dies zu tun, was für sie schwerwiegende Folgen hat [21].

Zwischen America und Docs Laden verändert sich nicht nur die Einstellung Anitas, denn vergleicht man diese Szenen genau, wirkt es, als wäre Anita durch den Mord Bernardos ‚dunkler‘ geworden. Erneut muss durch dunkles Make-up eine Emphase auf ‚die anderen‘ gesetzt werden, was durch den Jet-Kommentar: „She’s too dark to pass“ [22] verdeutlicht wird. Während Anita psychisch sowie physisch von den Jets vergewaltigt wird, hören wir erneut ihren America Refrain. Dies steht für ihre endgültige Kehrtwende, in der sie die Hoffnung an das Gute in den Jets und das Leben in Nordamerika verliert und somit beendet sie ihren Auftritt im Musical mit [23]:
 
Bernado was right. If one of you was lying in the street bleeding … I’d walk by and spit on you! […] Don’t you touch me! I got a message for your American buddy. You tell that murderer that Maria’s never going to meet him! You tell him that Chino found out about them … and shot her! She’s dead! [24]
 
Always Anita, never Maria

Vor allem durch die Verfilmung 1961 der West Side Story und deren Darstellung der Sharks wurden lateinamerikanische bzw. explizit puerto-ricanische Stereotypen gezeichnet und verfestigt. Diese Darstellungen müssen problematisiert werden, da sie mit jeder Neuinszenierung neu reproduziert werden und sich somit in die Denkmuster unserer Gesellschaft einprägen. Zweifellos können einige – wie zum Beispiel das äußerliche Erscheinen – in Inszenierungen aufgebrochen und dekonstruiert werden, jedoch werden Stereotypen in der Musik und in der Handlung stets erhalten bleiben, wie unter anderem anhand des Stückes America  .
Somit lässt sich schlussfolgern, dass die Filminszenierung der West Side Story, bezogen auf die Frauenwelt – im Genaueren auf Anita – viele Stereotypen zieht und durch den Male Gaze, den Blick auf die Frau als Objekt reproduziert. Nichtsdestotrotz weist Anita einen emanzipatorischen Charakter auf, weshalb sich viele eher mit Anita als mit Maria identifizieren und es zu Aussagen wie „Always Anita, never Maria“ kommt. 

Es geht nicht darum zu sagen: „Hey, ihr dürft nie wieder die West Side Story aufführen oder anschauen“. Nein natürlich nicht, musikalisch ist das Musical eine Wucht und ich liebe es auch immer noch zu America zu tanzen. Vielmehr geht es darum, einen etwas kritischen Blick für Dinge zu entwickeln und dabei sich und seine Umwelt zu reflektieren. Es geht auch darum, dass es möglich ist in zukünftigen Inszenierungen mit bestimmten Stereotypen zu brechen.

Ist ja schön und gut, aber du würdest dir den Beitrag lieber anhören? 


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Quellen

[1] Jerome Robbins und Robert Wise, Reg., West Side Story (USA: MGM, 1961, Apple TV), TC: 00:51:27
– 00:51:32.
[2] Latinx ist eine „Genderneutrale Bezeichnung für Menschen lateinamerikanischer Herkunft oder mit
lateinamerikanischem Familienhintergrund“. (Hasters, 215)
[3] Vgl. Frances Negrón-Muntaner, Boricua Pop: Puerto Ricans and the Latinization of American
Culture (New York: NYU Press, 2004), 71.
[4] Vgl. Wells, Elizabeth A., West Side Story: Cultural Perspectives on an American Musical (Lanham:
Scarecrow Press, 2010), 128.
[5] Hier möchte ich darauf hinweisen, dass die Verwendung des Wortes „America“ einen westlichen Blick
auf die Welt reproduziert. Bezieht man sich auf Amerika wird oft Nordamerika bzw. explizit die USA gemeint, jedoch bezeichnet Amerika einen Kontinent und die Verwendung für die bloße Bezeichnung der USA sollte vermieden werde. (Vgl. Real Academia Española. https://www.rae.es/dpd/América. letzter Zugriff am 02.09.2020)
[6] Wells, West Side Story, 116.
[7] Vgl. Negrón-Muntaner, Boricua Pop, 68.
[8]Vgl., Ebd., 59. 
[9] Ebd., 67.
[10] Vgl., Knapp, The American Musical, 207–208.
[11] Robbins, West Side Story, TC: 00:50:41, 00:51:34, 00:54:27.
[12] Ebd., TC: 01:35:56–01:36:14. 
[13] Chandler, Daniel, und Rod Munday. „Male gaze.“ In A Dictionary of Media and Communication.
Oxford University Press, 2011. https://www1oxfordreference-1com-10012c3x10425.emedia1.
bsbmuenchen.de/view/10.1093/acref/9780199568758.001.0001/acref-9780199568758-e-1594.
[14] Robbins, West Side Story, TC: 01:35:56 – 01:36:14.
[15] Negrón-Muntaner, Boricua Pop, 66.
[16] Robbins, West Side Story, TC: 02:15:34. 
[17] Vgl. Ebd., TC: 02:15:42 – 02:15:47.
[18] Negrón-Muntaner, Boricua Pop, 71. 
[19] Robbins, West Side Story, TC: 02:15:26 – 02:15:29.
[20] Negrón-Muntaner, Boricua Pop, 72. 
[21] Vgl. Wells, West Side Story, 128.
[22] Robbins, West Side Story, TC: 02:15:03 – 02:15:05.
[23] Vgl. Wells, West Side Story, 128.
[24] Robbins, West Side Story, TC: 02:16:45 – 02:16:58.
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